Presseerklärung zum Abschlussbericht des Runden Tisches

Nur wer nicht mit dem Rücken an der Wand steht, kann anderen den Rücken stärken: Beratung muss ausgebaut und finanziell abgesichert werden.


Am 30.11.2011 legen die drei zuständigen Ministerinnen den redigierten Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ auf der letzten Sitzung des Plenums des Runden Tisches vor. Die unterzeichnenden Verbände, Fachstellen und Einzelpersonen erkennen an, dass in den letzten 1,5 Jahren - auch beflügelt durch die Expertise der Missbrauchsbeauftragten Frau Dr. Bergmann – viel geleistet und erarbeitet wurde. Bei aller Freude über das Erreichte bleibt aus unserer Sicht folgendes weiterhin anzumerken und im Interesse der
Betroffenen sexualisierter Gewalt einzufordern.

1. Die aktuelle Studie von Frau Prof. Dr. Kavemann und Frau Rothkegel hat die Versorgungslücken für Betroffene sexualisierter Gewalt bestätigt. Der Runde Tisch hat diese Lücken erkannt und benannt. Eine verbindliche Lösungsperspektive ist aber nicht in Sicht. Wir, die Unterzeichenden fordern daher:

  • Die existierenden spezialisierten Fachstellen müssen in eine Regelfinanzierung überführt werden. Regionale Unterversorgung, z.B. in ländlichen Gebieten sowie in den neuen Bundesländern, ist abzuschaffen. Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, Finanzierungsmodelle zu entwickeln, die flächendeckend und nachhaltig zuverlässige Beratungsangebote gewährleisten.
  • Alle zu ergreifenden Maßnahmen müssen berücksichtigen, dass neben den heute (potenziell) betroffenen Kindern und Jugendlichen auch eine große Anzahl an heute erwachsenen Frauen und Männern von den Auswirkungen sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit betroffen ist.
  • Bisher unterversorgte Gruppen wie männliche Opfer, Migrant/innen sowie Opfer von sexualisierter Gewalt durch Jugendliche müssen zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote vorfinden.
  • Eine ebenfalls viel zu wenig berücksichtigte Gruppe von Betroffenen sind Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen. Dabei zeigt z.B. eine kürzlich veröffentlichte repräsentative Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dass Frauen mit Behinderung zwei- bis dreimal so häufig von sexuellem Missbrauch in ihrer Kindheit betroffen sind, wie der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt.
  • Neben ausreichenden Kapazitäten für Beratung, Begleitung, Unterstützung von Selbsthilfegruppen, müssen auch Ressourcen für Kriseninterventionen, Vernetzung, Prävention, Fortbildung und Öffentlichkeitsarbeit gesichert werden, damit sexualisierte Gewalt nachhaltig und wirksam bekämpft und sekundärer Viktimisierung und Traumatisierung vorgebeugt werden kann.
  • Alle rechtlichen Regelungen zu gesicherter Unterstützung, Beratung und Heilung müssen berücksichtigen, dass ein niedrigschwelliger und bei Bedarf anonymer Zugang zu den Angeboten erhalten bleiben muss.

Wir sprechen uns daher dafür aus, dass die Bundesregierung sowie die Landesregierungen zeitnah strukturelle und gesicherte Konzepte umsetzen, die deutlich über Projekte, Kampagnen und Einzelmaßnahmen hinausgehen. Wir
stehen der Verwaltung und der Politik in diesem Zusammenhang für eine konstruktive Zusammenarbeit zur Verfügung.

2. Die im Abschlussbericht verabschiedeten „Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden“ des Bundesministeriums für Justiz stellen ein bedenkliches Interventionsinstrumentarium dar. Die Leitlinien sind kein fachlich angemessener Umgang mit unterschiedlichen Konstellationen sexualisierter Gewalt. Sie erzeugen einen gefährlichen Handlungsdruck auf (möglicherweise) betroffene Kinder und Institutionen. Die spezifischen Probleme von Aufdeckungsprozessen bleiben unberücksichtigt. Das Kindeswohl muss auch hier an erster Stelle stehen und darf nicht hinter dem Strafverfolgungsinteresse zweitrangig werden.

3. Die Ernennung eines Mitarbeiters aus dem BMFSFJ zum „unabhängigen“ Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs widerspricht dem Gebot der dringend erforderlichen Unabhängigkeit. Zudem wird durch diese Berufung der Stellenwert des Themas sexualisierte Gewalt deutlich herabgestuft.

4. Das aktuelle Scheitern des ohnehin verwässerten Entwurfes für ein neues Kinderschutzgesetz im Bundesrat lässt uns befürchten, dass die politische Mehrheit nicht bereit ist, für die notwendigen Neuerungen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt Geld bereit zu stellen.


29. November 2011


Unterzeichnende:
Verbände:

bff- Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e.V.
DGfPI – Deutsche Gesellschaft zur Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung
und Vernachlässigung
LAG Jungenarbeit Thüringen
Organisatoren des bundesweiten Vernetzungstreffens von Einrichtungen die mit männlichen Betroffenen sexualisierter Gewalt arbeiten

Fachstellen:

Allerleihrauh e.V. Hamburg
Anlaufstelle Solingen
Anlauf- und Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch, Misshandlung und
Vernachlässigung, Deutscher Kinderschutzbund Ot. Sankt Augustin
Anstoß, Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt gegen Jungen und männliche
Jugendliche, Hannover
basis-prävent, Hamburg
Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt Bonn
biff Lübeck e.V.
Dolle Deerns e.V., Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt, Hamburg
Dornrose e. V., Weiden
Dunkelziffer e.V., Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder, Hamburg
EigenSinn, Prävention von sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen e.V., Bielefeld
Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, Rostock
Feuervogel e.V., Rastatt
Feuervogel e.V.
Informations- und Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt im Zollernalbkreis
Frauenberatungsstelle ALRAUNE e.V., Detmold
Frauenberatungsstelle Düsseldorf
Frauenberatungsstelle und Notruf Herford e.V.
Frauenberatung und Psychotherapie DISTEL e.V., Essen
Frauenberatungsstelle e.V., Lörrach
Frauennotruf Bielefeld e.V., Bielefeld
Frauennotruf Göttingen
Frauennotruf Koblenz, Fach- und Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen
Heckenrose e.V., Peine
IMMA e.V., München
Infokoop Künzelsau - Informations- und Kooperationsstelle gegen sexuelle Gewalt
Künzelsau
Kibs - Kontakt- Informations- und Beratungsstelle für männliche Opfer sexueller Gewalt,
München
Landarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe in Rheinland-Pfalz
LAWINE e.V., Beratungs- und Präventionsstelle gegen sexuelle Gewalt, Hanau
Mädchenhaus Bremen e. V.
Mädchenhaus Oldenburg e.V.
Männerbüro Hannover e.V.
mannigfaltig Minden-Lübbecke e.V.
N.I.N.A. – Nationale Infoline Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen
und Jungen, Kiel
Notruf für vergewaltigte Mädchen und Frauen e.V., Aachen
Notruf und Beratung für sexuell misshandelte Frauen und Mädchen e.V. Mannheim
Pfiffigunde e.V., Heilbronn
PETZE – Institut zur Gewaltprävention Kiel
Präventionsbüro Ronja, Notruf-Frauen gegen Gewalt e.V., Westerburg
Sag’s e.V., Langenfeld
Schattenriss e.V., Bremen
*sowieso* Frauen für Frauen e.V., Dresden
Tauwetter, Anlaufstelle für Männer, die als Junge sexuelle missbraucht wurden, Berlin
Teddybär e.V. Vogtlandkreis, Rodewisch
thamar, Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt, Böblingen
Violetta e.V., Dannenberg
Verlag Mebes & Noack, Köln
Wildwasser Dessau e.V.
Wendepunkt, Elmshorn
Wendepunkt, Fachstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, Freiburg
Wendepunkt e.V., Kreis Pinneberg und Hamburg
Wildwasser & FrauenNotruf, Karlsruhe
Wildwasser Freiburg e.V.
Wildwasser Kreis Großgerau e.V. gegen sexualisierte Gewalt
Wildwasser Oldenburg e.V.
Wildwasser Wiesbaden e.V.
Wildwasser Würzburg e.V.
Wildwasser, Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen, Berlin
Zartbitter e.V. Köln
Zartbitter Münster
Zornröschen, Mönchengladbach

Einzelpersonen:

Claudia Burgsmüller, Rechtsanwältin, Wiesbaden
Heike Jockisch, Kaiserslautern
Siggi Marx, Köln
Sabine Platt, Rechtsanwältin, Wiesbaden
Beatrix Ziegelmeier, Leipzig
Prof. Dr. Julia Zinsmeister, Köln