Hinweise für die Interviewführung mit Betroffenen

Medienschaffende suchen für ihre Berichterstattung oft Betroffene von Gewalt, um authentische Perspektiven und Sichtweisen zu erhalten. Für sehr viele Betroffene ist es jedoch schwer, über Gewalterfahrungen zu sprechen und erst recht, diese öffentlich zu machen. Nicht selten fühlen sich gewaltbetroffene Frauen instrumentalisiert, sie haben Sorge, dass es nicht um ihre persönliche Geschichte und ihre eigene Sicht geht, sondern ihre Geschichte nur als Illustration dient. Es ist für viele Betroffene ein großer Schritt, sich an die Presse zu wenden.

Gewaltbetroffene Menschen sind aber auch sehr verschieden in dem, wie sie mit dem Erlebten umgehen und was ihre Motive für eine Zusammenarbeit mit Medienvertreter*innen sind. Für manche ist es der erste Kontakt mit Medien und sie benötigen viele grundlegende Informationen, andere sind durch politische Arbeit oder berufliche Erfahrungen schon „Medienprofis“.

Tipp: Expertinnen aus Fachberatungsstellen fragen!

In den Fachberatungsstellen, die seit vielen Jahren gewaltbetroffene Frauen und Mädchen unterstützen, existiert sehr viel Wissen zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Dort arbeiten Personen mit Expertise zu den Ursachen, Auslösern, Folgen und Auswirkungen von Gewalt. In den Fachberatungsstellen finden sich geeignete Expertinnen, die für Interviews oder für die Vorbereitung von Interviews und für Fragen zur Verfügung stehen. Und: manchmal reicht ein anonymisiertes Fallbeispiel, um ein Problem nachvollziehbar zu machen.

Kontakte zu regionalen Fachberatungsstellen sind auf unserer Webseite zu finden.

Darauf sollte bei einem Interview/einem Dreh etc. mit Betroffenen geachtet werden:

Vor und während des Interviews

  • Auf Datenschutz und den Schutz der Person achten – die Anonymität der gewaltbetroffenen Frauen, die sich für ein Interview bereiterklären, muss gewährleistet sein. Das bedeutet: Dem Wunsch der Betroffenen nachkommen und keine Namen nennen, das Gesicht und evtl. auch die Stimme unkenntlich machen, auf mögliche Hinweise auf Ort oder gefilmte Umgebung etc. achten.
  • Für manche Betroffene ist es aber auch wichtig, nicht anonymisiert zu werden. Sie möchten dem Thema ein Gesicht, eine Stimme und einen Namen geben. In diesem Fall sollte gut über die Reichweite des Medienberichtes aufgeklärt werden. Auch Zeitungsartikel sind heute meist online und auch noch viele Jahre später auffindbar. Es muss gut überlegt sein, ob dies auch für spätere, noch nicht absehbare Lebenssituationen tragbar ist, oder eine zumindest teilweise Anonymisierung (z.B. durch ein Pseudonym) sinnvoll ist.
  • Es ist darauf zu achten, dass die Betroffenen in einer ausreichend stabilisierten Situation sind. Eine Kontaktaufnahme z.B. direkt nach einem Übergriff ist zu vermeiden.
  • Eine Berichterstattung während eines laufenden Strafverfahrens kann sehr schädlich für Betroffene sein. Hier ist es wichtig, dass Anwält*innen von Betroffenen einbezogen sind und frühzeitig konsultiert werden.
  • Auch weitere rechtliche Konsequenzen müssen bedacht und abgeklärt werden z.B. eine Verleumdungsklage, wenn der Täter oder andere Personen im Beitrag identifizierbar sind.
  • Grundsätzlich gilt: Kein Mitleid, sondern Anteilnahme und Wertschätzung zeigen im Gespräch.
  • Eine respektvolle Grundhaltung ist wichtig! Betroffene sind Expert*innen ihres eigenen Lebens und sind manchmal auch aus dieser Erfahrung heraus gesellschaftspolitische Expert*innen geworden, d.h. sie haben sich mit anderen Betroffenen vernetzt und bringen die Betroffenenperspektive in gesellschaftliche und politische Prozesse ein. Einige staatliche und zivilgesellschaftliche Gremien haben inzwischen Betroffenenbeiräte eingeführt, um die Betroffenenperspektive strukturiert und partizipativ in Prozesse und Entscheidungen einzubeziehen (einige Beispiele siehe hierzu „Weitere Informationen“). Die Betroffenenperspektive ist im Sinne der Partizipation genauso wichtig und ernst zu nehmen wie die Perspektive von beruflichen Expert*innen. Dies gilt auch für Medienberichte. Keinesfalls dürfen Betroffene reduziert werden auf die Rolle als Lieferant*innen von emotionalen „O-Tönen“, die dann von „echten“ Expert*innen bewertet werden.
  • In der Zusammenarbeit mit Betroffenen sind Einfühlungsvermögen und Verständnis gefragt. Eine knappe oder oberflächliche Beschäftigung mit der Thematik sollte vermieden werden. Das braucht Zeit und sollte in der Planung berücksichtigt werden.
  • Bei Bedarf sollte die Begleitung durch eine*n Therapeut*in, Beraterin oder erfahrene*n Anwält*in ermöglicht werden.
  • Für Betroffene ist es hilfreich, so viel wie möglich Kontrolle über die Berichterstattung zu haben. Dazu zählen Informationen über den Aufbau des Beitrags, wie lang der Beitrag werden soll, wann er erscheint und ob der*die Täter*in im Beitrag berücksichtigt wird. Denn die Darstellung der Situation des*der Täter*in wird von Betroffenen in der Regel als belastend empfunden.
  • Es ist gut, die geplanten Interviewfragen vorab mit den Betroffenen zu besprechen. Sollte eine Frage als problematisch empfunden werden, wird diese weggelassen.
  • Es gibt Trigger (Auslöser von Flashbacks), die Außenstehenden nicht bewusst sind. Das bedeutet, bestimmte Bilder, Geräusche oder Wörter, die mit der Tat verbunden sind, können zu überflutenden Erinnerungen (Flashbacks) führen. Es ist wichtig zu klären, was mögliche Trigger sein könnten. Es kann auch helfen, wenn Betroffene den Ort des Interviews und die Rahmenbedingungen selbst (mit-)gestalten können.
  • Es sollte auf eine detaillierte Beschreibung der Gewalt verzichtet werden, da die Betroffenen dies als demütigend empfinden können und außerdem die Grenze zum Voyeurismus hier besonders schmal ist.
  • Die Betroffenen müssen entscheiden können, wie viel sie erzählen. Gezieltes, insistierendes Nachfragen nach Einzelheiten kann zu einer Retraumatisierung führen.
    Wenn Betroffene das Interview beenden wollen oder eine Frage nicht beantworten möchten, ist darauf Rücksicht zu nehmen.
  • Nach dem Interview
    Auch im Anschluss an das Interview und bei der Erstellung des Beitrags muss auf Datenschutz und den Schutz der Person geachtet werden – die Anonymität der gewaltbetroffenen Frauen, die sich für ein Interview bereiterklären, muss gewährleistet sein.
  • Gegebenenfalls sollte nochmals besprochen werden, was veröffentlicht werden darf und was nicht.
  • Nach Fertigstellung des Beitrags sollten Betroffene vor Ausstrahlung oder vor Veröffentlichung die Möglichkeit haben, den Beitrag in Ruhe einzusehen. Änderungswünsche sollten umgesetzt werden können.
  • Die interviewten Personen sollten darüber informiert werden, wann der Beitrag veröffentlicht wird und ggf. ein Belegexemplar erhalten.
  • Auch nach der Veröffentlichung sollte es Betroffenen möglich sein, den Beitrag zurückziehen zu lassen, zu verändern (online) bzw. eine erneute Veröffentlichung zu verhindern (Print/Fernsehen/Radio etc.).
  • In allen Medienberichten muss auf spezifische Hilfsangebote hingewiesen werden: Beratungsdatenbank des bff, Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, Hilfetelefon sexueller Missbrauch etc.

Die Beschäftigung mit Gewalt und den oft massiven Gewalterfahrungen von Frauen und Kindern kann die eigene Verletzlichkeit und evtl. auch eigene Gewalterfahrungen berühren. Sorgen Sie gut für sich! Bei Bedarf können Sie sich auch Unterstützung holen, z.B. in einer Fachberatungsstelle oder Supervision.