Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderung

Merkmale und Tatsachen

Frauen und Mädchen mit Behinderung sind sehr viel häufiger von Gewalt betroffen als nichtbehinderte Frauen und Mädchen.

In der Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ gab fast die Hälfte der Befragten an, im Lauf ihres Lebens sexualisierte Gewalt erfahren zu haben.

Frauen mit Behinderung erfahren außerdem fast doppelt so häufig wie nichtbehinderte Frauen körperliche Gewalt im Erwachsenenalter: 3 von 5 Befragten berichteten davon.

70-90% der in Einrichtungen der Behindertenhilfe lebenden Frauen gaben Erfahrungen psychischer Gewalt an. Von den Frauen mit Behinderung, die im eigenen Haushalt leben, war mindestens jede 2. von psychischer Gewalt durch die Eltern betroffen; 75% gaben psychische Gewalterfahrungen im Erwachsenenalter an.

Lange Zeit war Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderung ein Tabuthema. Sie erfahren aber sehr häufig Gewalt: zu Hause, in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder auch bei der Pflege. Jedoch nehmen nur wenige von ihnen Beratung und Hilfe in Anspruch.

Die Täter sind zu 97% Männer, die den Frauen zum größten Teil bekannt sind. Sie kommen aus dem gesamten Umfeld der Frauen. Es sind zum Beispiel Väter, Stief- und Pflegeväter, Betreuer, Bus- und Taxifahrer, Anleiter aus Werkstätten für behinderte Menschen oder Mitbewohner in der Wohneinrichtung.

Die Betroffenen befinden sich häufig in emotionaler oder auch körperlicher Abhängigkeit von den Tätern. Die Nähe zu den Pflegepersonen erleichtert Grenzverletzungen und Übergriffe.

Frauen und Mädchen mit Behinderung erfahren Mehrfachdiskriminierung und strukturelle Gewalt aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung, unter Umständen auch aus weiteren Gründen.

Ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich von denen nichtbehinderter Frauen. Daraus ergibt sich auch ein erhöhtes Risiko, zwischenmenschliche Gewalt zu erfahren.

Wesentliche Risikofaktoren dafür sind Sozialisation, Assistenz- und Pflegebedarf und das Leben in Institutionen.

Sozialisation

Die Identität, der Selbstwert und das Selbstbewusstsein von Menschen entwickeln sich in Abhängigkeit von der sozialen Umgebung. Menschen mit Behinderung werden häufig nicht als Personen mit individuellen Fähigkeiten, sondern in erster Linie als behindert wahrgenommen. Dies wirkt sich auf ihre Selbstwahrnehmung aus und hat negative Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung.

Vor allem Mädchen und Frauen mit Behinderung werden im Verlauf ihrer Sozialisation häufig stark zur Anpassung erzogen. Für viele ist es schwer, Bedürfnisse auszusprechen oder durchzusetzen. Oft stellt ihr Umfeld ihre Behinderung in den Vordergrund und erkennt ihre Geschlechtsidentität weniger oder gar nicht an. Je sichtbarer die Behinderung ist, als desto „geschlechtsloser“ werden Frauen wahrgenommen und sie gelten bestehenden Schönheitsidealen nach als „unattraktiv“. Auch dies wirkt sich negativ auf Selbstwert und Selbstbewusstsein aus.

Assistenz und Pflege

Viele Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind in ihrem Leben von der Hilfe und Unterstützung durch andere Personen abhängig. Assistenz und Pflege werden in den meisten Fällen von Familienangehörigen, Partner*innen oder externen Professionellen erbracht und gehen mit einer sehr intimen körperlichen Nähe einher.

In Pflege- und Betreuungssituationen kommt es nicht selten zu Grenzverletzungen und Übergriffen. Auch bei medizinischen Untersuchungen und therapeutischen Maßnahmen, die Menschen mit Behinderung viel häufiger als Nichtbehinderte in Anspruch nehmen müssen, kann es zu Grenzüberschreitungen und Übergriffen kommen.

Leben in Institutionen

Einige Mädchen und Frauen mit Behinderung leben schon seit Kindesalter in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Lange Zeit galten solche Institutionen als besonders geschützte Räume, in denen vermeintlich keine Übergriffe und Gewalt stattfinden. Die Realität ist jedoch eine andere.

In einigen Wohnheimen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ist ein selbstbestimmtes Leben aufgrund alltäglicher Reglementierungen schwer möglich. So gibt es z.T. noch immer Mehrbettzimmer oder nicht abschließbare Zimmer/Waschräume, die eine Intimsphäre und auch gelebte Sexualität nur sehr begrenzt ermöglichen. Menschen mit Behinderungen, die in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben und auf Pflege angewiesen sind, können außerdem meist nicht selbst entscheiden, wer sie pflegen soll und wer nicht. Sie sind zudem in hohem Maß abhängig von den Mitarbeitenden. Die Strukturen der Einrichtungen erleichtern so häufig Übergriffe und erschweren die Aufdeckung von Gewalt.