Gewaltschutz und Flucht:
Geschlechtsspezifische Gewalt als Asylgrund und im Asylverfahren

1. Inwiefern kann geschlechtsspezifische Gewalt als Anerkennungsgrund des Asylantrags bzw. als Abschiebeverbot/ Härtefall geltend gemacht werden?

Geschlechtsspezifische Gewalt kann im Fluchtkontext in unterschiedlichen Situationen stattfinden, was zu jeweils sehr unterschiedlicher Berücksichtigung im Asylverfahren in Deutschland führt:

Geschlechtsspezifische Verfolgung im Herkunftsland

Zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus kann nur erlittene Gewalt oder geschlechtsspezifische Verfolgung im Herkunftsland führen. Denn „ein Flüchtling“ ist laut dem Wortlaut der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer ‚Rasse‘[1], Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“ Es geht also um eine Verfolgung im Herkunftsland. Unter Verfolgung werden auch Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gefasst.

Die Verfolgung aufgrund des Geschlechts wurde im Laufe der Auslegung und weiteren Konkretisierung der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention dem Verfolgungsgrund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugeordnet. Zunächst stand dabei die Verfolgung von Frauen aufgrund genderspezifischer Merkmale im Fokus. Zur flüchtlingsrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung gehört an erster Stelle die ausgeübte sexualisierte Gewalt durch Angehörige staatlicher Strukturen in Ausübung ihrer Staatsgewalt im Herkunftsland (u.a. Folter, Vergewaltigung in Polizeihaft oder im Gefängnis). Außerdem gehören hierher Verfolgungsmaßnahmen des Staates gegen Frauen, die allein an das Geschlecht anknüpfen.

Hierzu gehören u.a. etwa die Genitalbeschneidung, Zwangsverheiratung, die Gefahr wegen vermeintlicher ‚westlicher Prägung der Frauen‘[2]. Geht die Verfolgung nicht von Angehörigen der staatlichen Strukturen selber aus, sondern von Ehemännern, Nachbarn, anderen Personen aus der Gemeinschaft etc., muss neben der Feststellung der Erheblichkeit der Verfolgung in einem zweiten Schritt festgestellt werden, dass der Staat und seine Organe nicht willens oder nicht in der Lage sind, vor dieser Verfolgung zu schützen.

Die Rechtsprechung ist allerdings uneinheitlich. So kommen die Gerichte z.B. bei Zwangsverheiratung von der Feststellung eines Abschiebehindernisses bis zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu allen möglichen, sehr unterschiedlichen Entscheidungsabstufungen.

Wichtig für von Verfolgung Betroffene ist, dass die Feststellung von Flüchtlingsschutz oder Abschiebehindernissen grundsätzlich eine individuelle Einzelfallentscheidung ist und grobe Verallgemeinerungen nicht möglich sind.

Auch wenn es z.B. die Rechtsprechung gibt, welche die ‚starke Verwestlichung‘ [3] einer Frau aus einem Land wie Afghanistan als eine Verfolgungsgefahr erkennt, gilt dies zum einen nicht für alle Gerichte, und kommt es zum anderen abermals auf die Bewertung des Einzelfalls an.

Ebenfalls unter das Verfolgungsmerkmal „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ gehört inzwischen unstreitig die Verfolgung von LSBTIQ* aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität.

Geschlechtsspezifische Gewalt auf der Flucht/ im Aufnahmestaat

Geschlechtsspezifische Verfolgung auf der Flucht oder im Aufnahmestaat hingegen kann nicht zur Flüchtlingsanerkennung führen. Sie kann aber, wenn sie zu einer starken physischen und/oder psychischen Verletzung der betroffenen Person führt, die ein (Über)Leben im Herkunftsland unmöglich macht, dazu führen, dass ein Abschiebeverbot festzustellen ist und der betroffenen Person eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

2. Welche besonderen Möglichkeiten haben Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt während des Asylverfahrens?

Im Falle geschlechtsspezifischer Verfolgung kann die schutzsuchende Person verlangen, von einer besonders geschulten bzw. sensibilisierten Person angehört zu werden. Es gibt beim BAMF so genannte Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. Darüber hinaus können Frauen und in der Regel auch LSBTIQ* z.B. darauf bestehen, dass eine weibliche Person die Anhörung durchführt und auch Frauen als Sprachmittlerinnen hinzugezogen werden, weil die Person nicht im Beisein von Männern über das ihr Widerfahrene  sprechen kann.

Im besten Fall beantragt die schutzsuchende Person dies – ggf. mit Unterstützung einer Beratungsstelle oder einem*r Anwält*in – schon vor der Anhörung, sodass an dem konkreten Termin alle vorbereitet sind. Regelmäßig sollten aber auch im Fall, dass dies nicht geschehen ist, die Mitarbeiter*innen des BAMF die betroffene Person auch noch in der Anhörung fragen, ob es für sie in Ordnung ist, dass das Interview von einem Cis-Mann geführt wird, oder ob sie lieber eine  Anhörer*in möchte.

Ergänzend können immer auch (Fach-)Stellungnahmen von Beratungsstellen zur Unterstützung des Vorbringens erlebter geschlechtsspezifischer Gewalt beim BAMF vorgelegt werden. Diese ersetzen aber nicht das persönliche Vorbringen der antragstellenden Person. Es kommt nur ganz selten und in besonderen Ausnahmefällen vor, dass aufgrund einer Stellungnahme, in der eine extreme Vulnerabilität der Person mitgeteilt wird, auf die persönliche Anhörung verzichtet wird.

Wichtig ist, dass auch bei umfangreichen Stellungnahmen der schutzsuchenden Person klar sein muss, dass dies ihren Vortrag nicht ersetzt und sie möglicherweise alles noch einmal erzählen muss, selbst wenn ihre Geschichte dem Bundesamt schon mit der Stellungnahme zugeschickt wurde.

3. Was gilt es bei Fachstellungnahmen von Beratungsstellen/Frauenhäusern zu beachten?

Fachstellungnahmen von Beratungsstellen können gerade in Fällen, in denen Personen aufgrund erlittener geschlechtsspezifischer Gewalt psychisch stark belastet sind, hilfreich sein, um der Person beim BAMF Gehör zu verschaffen, eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Anliegen zu erreichen und das persönliche Vorbringen zu stützen. Bei Erstellung einer solchen Stellungnahme sind unter anderen folgende Punkte unbedingt zu beachten:

Die Person, die Stellung nimmt, sollte dies immer sehr sorgfältig und nur in dem Rahmen ihrer beruflichen Qualifikation tun, d.h. sie sollte sich nicht zu Dingen äußern, die außerhalb ihrer Kenntnis liegen (etwa zu Zuständen im Herkunftsland oder Sozialarbeitende nicht zu psychischen Erkrankungen etc.).

Große Vorsicht ist bei der Wiedergabe der persönlichen Lebensgeschichte geboten. Oft führen Unklarheiten, Übersetzungsfehler oder andere Missverständnisse zu Fehlern oder auch nur Ungenauigkeiten, die möglicherweise später im Widerspruch zu dem stehen, was die Person in der Anhörung sagt. Widersprüche in der eigenen Verfolgungsgeschichte sind jedoch eines der größten Probleme im Asylverfahren. Denn die Behörden und auch die Gerichte gehen immer noch in großen Teilen davon aus, dass eine geflüchtete Person das ihr Widerfahrene jederzeit inhaltlich völlig übereinstimmend, widerspruchsfrei, allenfalls mit wechselnden Worten wiederholen und wiedergeben kann.

Jede allzu ausführliche Schilderung der Ereignisse, die vor der persönlichen Anhörung beim Bundesamt eingereicht wird, schränkt damit die eigenen Erklärungsmöglichkeiten der schutzsuchenden Person ein und verlangt von ihr möglicherweise die Aufklärung von Widersprüchen, die ihr selber gar nicht klar sind.

Hilfreicher sind vielfach Stellungnahmen, in denen die schreibende Person mitteilt, wie der (erste) Kontakt mit der schutzsuchenden Person verlief, wie diese ihr begegnet ist, wie der Gesprächsverlauf war und was der stellungnehmenden Person aufgefallen ist.

4. Haben Gewaltschutzanordnungen Auswirkungen auf das Asylverfahren? Wenn ja, welche?

Grundsätzlich haben Gewaltschutzanordnungen keinen direkten Einfluss auf das Asylverfahren. Im Asylverfahren geht es in erster Linie um die Beurteilung der Situation im Herkunftsland.

Wie bereits ausgeführt, kann aber die Gewalttätigkeit des Ehepartners das Asylverfahren einer Frau dahingehend beeinflussen, dass darin möglicherweise ein hinzukommendes Abschiebehindernis begründet liegt. Bewertet wird dann, ob die Gewalttätigkeit des Partners oder der Umstand, dass diesem z.B. die gemeinsamen Kinder (vorübergehend) entzogen wurden oder werden, eine Verfolgung bei einer unterstellten Rückkehr ins Herkunftsland bedeuten kann. Beispielsweise wenn im Falle der Trennung die Kinder nach dem (Gewohnheits-)Recht des Herkunftsstaates zur Familie des Mannes gehören und die Frau, die mit den Kindern vor dem Mann geflüchtet ist, durch die Familie des Mannes bedroht wird.

Dies ist aber nur für den konkreten Einzelfall zu beantworten und kann nicht pauschalisiert werden.

Nicht nur bei einer längerfristigen Trennung, sondern gerade auch im Falle einer Gewaltschutzanordnung sollte unbedingt daran gedacht werden, dass die Asylverfahren der Eheleute getrennt werden (können). Hierzu ist es sehr wichtig, vorher anwaltlichen Rat einzuholen.

5. Was passiert im Falle einer Trennung, wenn der Aufenthaltsstatus von (Ehe-) Partner*innen abhängig ist?

Im Falle einer Trennung muss zunächst im Einzelfall genau geklärt werden, welchen Aufenthaltsstatus die Eheleute haben, ob eine*r oder beide sich noch im Asylverfahren befinden oder ob bereits ein Schutzstatus zugesprochen wurde. Weiter ist zu prüfen, ob der Aufenthalt – in unseren Fällen meist der der Frau – vom Zusammenleben bzw. der Ehe mit ihrem Ehepartner abhängt. Es gibt verschiedene Konstellationen:

Weiter ist zu prüfen, ob der Aufenthalt – in unseren Fällen meist der der Frau – vom Zusammenleben bzw. der Ehe mit ihrem Ehepartner abhängt. Es gibt verschiedene Konstellationen:

  • Zunächst kann die Frau Familienflüchtlingsschutz als Ehefrau erhalten, d.h. sie fällt aufgrund der familiären Einheit in den Gefahrenbereich des Verfolgten und wird (auch) als Flüchtling anerkannt. Dann ist immer zusätzlich zu prüfen, ob sie „nur“ ihrem Ehemann gefolgt und keine eigenen Fluchtgründe bzw. keine eigenen, individuellen Verfolgungsgründe hat. Wenn sie allein aufgrund der Verfolgung ihres Ehepartners Familienflüchtlingsschutz erhalten hat, kann sich eine Trennung erheblich auf ihren eigenen Aufenthalt auswirken.
  • Gleiches gilt, wenn eine Frau über den Familiennachzug zu ihrem als Flüchtling anerkannten Ehepartner nachgezogen ist und eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen hat. Dann kann sich eine Trennung erheblich auf ihren eigenen Aufenthalt auswirken. Im schlimmsten Fall kann sie ihren Aufenthalt verlieren.

Es ist demnach im Falle einer Trennung zu prüfen, ob die Frau eigene Verfolgungsgründe hat, die sie möglicherweise gar nicht geltend gemacht hat oder ob die Trennung möglicherweise einen neuen Grund für ein Abschiebehindernis darstellt.

Oftmals kann die Trennung als solche oder der im Herkunftsstaat vorgesehene Verbleib der Kinder beim Vater ein neuer Grund für z.B. ein Abschiebehindernis sein. Diese Frage sollte im Einzelfall in einer sachkundigen Rechtsberatung geklärt werden.

Wiederum anders ist die Situation, wenn gemeinsame Kinder da sind, die über den anerkannten Vater Flüchtlingsschutz erhalten haben. Dann kann auch die getrennte Frau über die Ausübung der elterlichen Sorge ihren Aufenthalt sichern (siehe Kapitel: Unter welchen Voraussetzungen hat die Geburt eines Kindes in Deutschland Auswirkungen auf den Aufenthaltstitel geflüchteter Eltern?).

Fußnoten

[1] Der Begriff Rasse wird hier verwendet, da er in Gesetzestexten genutzt wird. Zur Kritik daran siehe zum Beispiel: www.heimatkunde.boell.de/problematik und www.institut-fuer-menschenrechte.de/Publikationen/Policy

[2] Der Begriff ist von der Rechtssprechung geprägt.

[3] Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom 21.09.2015, - 9 LB 20/14; Urteil des VG München vom 14.08.2007 - M 23 K 07.50455; Urteil des Asylgerichtshof Österreich vom 09.03.2012, Az: C2 422385-1/2011/8E