Statement von DaMigra: Machtübernahme der Taliban in Afghanistan – eine menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe
Der Dachverband der Migrantinnenorganisationen hat folgendes Statement veröffentlicht:
Auch wenn die Luftbrücke in Afghanistan von der Bundeswehr eingestellt wurde, so bitten wir Sie weiterhin eindringlich, Möglichkeiten zu schaffen vor allem Frauen und Kinder auszufliegen und damit vor der Gewalt der Taliban zu schützen. Dem Attentat am Flughafen von Kabul, so kurz nach dem Abzug vieler Truppen, muss mit einem starken Signal entgegnet werden. Einem Signal, das zeigt: Die Menschen in Afghanistan sind uns nicht egal, wir setzen alles daran, dass diese Menschen in Sicherheit ein selbstbestimmtes Leben führen können!
Wir bitten Sie um Berücksichtigung des beiliegenden Appells von DaMigra e.V. gemeinsam mit vielen afghanischen und anderen Frauenrechtsorganisationen sowie weiteren Unterzeichnerinnen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Bitte handeln Sie schnell und jetzt!
Die westlichen Staaten scheinen völlig überrascht zu sein, was das Tempo der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan angeht, nicht aber darüber, dass die radikalen Fundamentalisten die Macht wieder an sich nehmen. Diese Machtübernahme ist über längere Zeit von den Taliban vorbereitet, durchgeführt und durch US-amerikanische Verhandlungen mit den Taliban als „Verhandlungspartner“ in Doha seit langem besiegelt. Kurzum: Es sind eine Vielzahl diplomatischer und militärischer Fehler passiert, auf die wir in dieser Stellungnahme nicht erneut eingehen. Vielmehr fordert DaMigra eine Kehrtwende in der sogenannten „Flüchtlingspolitik“, die ein schnelles und unbürokratisches Handeln voraussetzt. Nur so können Menschenleben, insbesondere Frauen und Kinder, die am öffentlichen Leben in Afghanistan teilnahmen, ausgeflogen und damit gerettet werden.
Auch wenn wir Bilder von mutigen Frauen und Männern sehen, die auf den Straßen von Kabul ihr Land verteidigen, berichten uns unsere afghanischen Netzwerke von Angst und schierer Verzweiflung vor Ort. Besonders Frauen und Kinder wandeln schutzlos in den Straßen Afghanistans, verstecken sich im Untergrund und warten dringend auf Hilfe.
Derzeit laufen zwar einige Bekundungen einzelner Bundesländer an, die wenige Hunderte aufnehmen wollen, zugleich scheint es mittlerweile fast aussichtlos, die Hilfesuchenden auszufliegen. Welche Verantwortung tragen die Verbündeten und insbesondere auch die EU und Deutschland für die aktuelle Lage in Afghanistan seit 20 Jahren? Was ist vor Ort, aber auch hierzulande zu tun, um bedrohten Frauen, Kindern und anderen Schutzlosen tatsächlich zu helfen?
Eine Strategie für schnelleres, unkompliziertes und verantwortungsvolleres Handeln muss her.
Das bedeutet zum einen: das Bereitstellen unbürokratischer Hilfe durch zügige Visa- und Asylverfahren für alle betroffenen Frauen. Wie ist es möglich, dass die Flieger der Bundesregierung halb leer nach Deutschland starten? Wie kann es sein, dass hilfesuchende Frauen nicht zu den Helfer*innen vor Ort durchdringen? Uns wird berichtet, dass die Taliban durch gezielte Aktionen die Wege zum Flughafen besetzen, um die Flucht von Menschen zu verhindern. Die Bundesregierung muss daher vor Ort präsent sein und sichere Fluchtwege über die Luftbrücke gewährleisten, um vor allem Frauen und Kinder nicht stillschweigend den Taliban auszuliefern.
Es ist zwingend erforderlich, die Kontingente für besonders schutzbedürftige Frauen und Mädchen aus Afghanistan zu erhöhen, unbürokratische Aufnahmen zu ermöglichen und ihnen als Angehörige einer vulnerablen Gruppe, die geschlechtsspezifische Verfolgung erleidet, Asyl in Deutschland zu gewährleisten.
Zum anderen bedeutet Verantwortung übernehmen aber auch: sich Fehler einzugestehen. Noch vor kurzem wurden Menschen und ganze Familien aus Deutschland abgeschoben – wohlwissend, dass ihr Leben nicht geschützt ist. Wir warnen vor der Instrumentalisierung dieser menschenrechtlichen und humanitären Katastrophe in Afghanistan für Wahlversprechen in diesem Superwahljahr 2021. Die Bundesregierung trägt für die aktuelle Lage in Afghanistan eine Mitverantwortung, ebenso wie viele weitere Staaten. Diese Mitverantwortung anzuerkennen bedeutet auch, gezielt und mit Bedacht die finanziellen Hilfen dahin zu senden, wo sie auch unmittelbar die Betroffenen erreichen.
Daher ist es notwendig, dass ausschließlich mit unabhängigen NGOs vor Ort Sonderprogramme für den Schutz der von den Taliban verfolgten Menschen, im Besonderen aller Frauen, die ein selbstbestimmtes Leben führten, etabliert werden. Auch wenn viele der flüchtenden Frauen und Kinder aus Afghanistan die Nachbarländer erreichen, so dürfen wir nicht vergessen, dass sie in Pakistan oder dem Iran ebenfalls unterdrückt werden. Auch sie unterstützten jahrelang den Aufstieg der islamistischen Taliban.
Es müssen daher Notaufnahmelager in der Region eingerichtet werden. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass Frauen und Mädchen einen besonderen Schutz erhalten und somit vor sexualisierter Gewalt geschützt werden.
Aber auch hierzulande können wir uns nicht selbstgerecht in Sicherheit wiegen und behaupten, die geflüchteten Frauen wären hier sicher.
Auch in den Gemeinschaftsunterkünften hierzulande befürchten Frauen und Mädchen sexualisierte Gewalt.
Wie können wir den geflüchteten Frauen und Mädchen, die bereits hier sind, aber auch denen, die kommen werden, Schutz vor weiterer Gewalt und Traumatisierung bieten? Einschüchterung, Bedrohung und Gewalt seitens diverser Männer machen nicht Halt vor Unterkünften und dem Alltag im Fluchtland. Im Umgang mit Geflüchteten und speziell der Bekämpfung gegen geschlechtsspezifische Gewalt wurde in den letzten Jahren leider nur wenig dazugelernt. Die geflüchteten Frauen berichten uns von Übergriffen, überfüllten Zimmern, fehlender Privatsphäre und mangelnder gesundheitlicher Hilfe. Schwangere Geflüchtete, Alleinerziehende, Mädchen und queere Menschen leiden hierunter besonders stark. Die Residenzpflicht, die Wohnsitzauflagen, das sogenannte Krankenschein-System in der Gesundheitsversorgung Geflüchteter sind nur einige von vielen bürokratischen Hindernissen für ein selbstbestimmtes und sicheres Leben.
Internationale Menschen- und Frauenrechtsabkommen sind wichtiger denn je, um die Rechte geflüchteter und migrierter Frauen zu stärken.
Die internationale UN-Frauenrechtskonventionen (CEDAW) ist seit über 40 Jahren in Kraft. Auch Afghanistan unterzeichnete und ratifizierte CEDAW. Der Afghanische Nationale Aktionsplan „Frauen, Frieden und Sicherheit“ wurde im Jahre 2015 entwickelt, um den Herausforderungen zu begegnen, mit denen Frauen in Afghanistan während des Krieges und der Konflikte konfrontiert sind. Es handelt sich hierbei um einen Meilenstein für die Stärkung von Frauen im politischen Friedensprozess. Dieser beinhaltet die wichtigsten Säulen der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats: Partizipation der Frauen in allen Phasen der Friedensverhandlungen und Aufrechterhaltung und auf allen Ebenen der Gesellschaft, Schutz, Prävention sowie Hilfe und Wiederaufbau. Afghanistan hat im Rahmen seiner nationalen Berichterstattung für Peking+25 und in Vorbereitung auf die 64. Sitzung der Frauenrechtskonvention (2020) unter anderem über die Umsetzung seiner „Frauen, Frieden, Sicherheit“-Verpflichtungen positiv berichtet. Diese hart erkämpften Pläne für die Stärkung der Rechte der Frauen wurden mit der Machtübernahme der Taliban zunichtegemacht.
Deutschland hat gemeinsam mit den anderen UN-Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates in Afghanistan umgesetzt wird. Es bedarf eines sofortigen runden Tisches zu Frauenrechten in Afghanistan gemeinsam mit dem Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit und dem Auswärtigem Amt.
Die Frauenrechte in Deutschland, aber auch in den anderen Aufnahmeländern, müssen gestärkt werden. Das bedeutet: Es müssen Schutzmaßnahmen speziell für von Gewalt betroffene migrierte und geflüchtete Frauen etabliert werden. Dazu gehört die tatsächliche Umsetzung des Asyls für Frauen und Mädchen wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung gemäß Art. 60 der Istanbul-Konvention sowie ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht für Frauen gemäß Art. 59.
Es darf nicht stets über den Kopf und die Bedürfnisse der Betroffenen hinweg entschieden werden! Die betroffenen Frauen und ihre Initiativen müssen in die Entscheidungen über Hilfsgüter und bedarfsgerechte Schutzmaßnahmen als Expertinnen mit eingebunden werden.
Auch unsere Gleichstellungspolitik vor Ort muss erkennen, dass migrationspolitische Themen eng mit ihr verwoben sind.
Wir stehen an der Seite der vielen afghanischen Frauen in Deutschland und weltweit und fordern bedingungslose Solidarität mit all jenen, denen ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird.