Interview mit Sandra Boger und Kerstin Demuth aus dem Projekt „aktiv gegen digitale Gewalt“

„Wichtig ist bei der Thematik folgendes, auch wenn häufig zwischen digitaler und „realer“ Gewalt unterschieden wird; digitale Gewalt ist real und es ist eine omnipräsente Gewalt. Das bedeutet die Auswirkungen können für die Betroffenen körperlich und psychisch enorm sein.“

Sandra Boger ist Diplom Psychologin und ist seit über 7 Jahren Referentin beim bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V. als Referentin für die Suse-Projekte und für die Projektreihe „aktiv gegen digitale Gewalt“. Dort setzt sich Sandra Boger für ein gleichberechtigtes und gewaltfreies Leben aller Menschen ein.

Kerstin Demuth ist Referentin beim bff und arbeitet dort vor allem zur Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt. Kerstin Demuth hat Politikwissenschaften studiert und interessiert sich für den Impact von Digitalisierung auf Demokratie und Menschenrechte.

Liebe Sandra, liebe Kerstin, ihr arbeitet seit einigen Jahren im bff zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt im digitalen Raum. Könnt ihr uns etwas über euer aktuelles Projekt „aktiv gegen digitale Gewalt“ erzählen? Was habt ihr die nächsten 4 Jahre ab 2023 vor?

Sandra Boger: Wir haben das große Glück nun eine Projektlaufzeit von 4 Jahren zu haben. Neben den Kernaufgaben, wie Lobby-, Presse-, Öffentlichkeitsarbeit, Politikberatung und fachlicher Austausch zum Thema digitale Gewalt werden wir zu den folgenden 5 Zielbereichen arbeiten:  

  • Gewaltformen in den Fokus nehmen: Wir möchten u.a. unseren Mitgliedern und der Öffentlichkeit Informationen über die Gewaltform bildbasierte Gewalt zur Verfügung stellen. Dazu soll ein Clip produziert und eine Kampagne gestartet werden.  
  • Plattform-Monitoring: In diesem Zielbereich möchten wir erarbeiten, wie das Digitale-Dienste-Gesetz auf Plattformen umgesetzt werden kann. Dafür planen wir auch eine Öffentlichkeitsarbeit. Verstärkt wollen wir hier der Frage nachgehen, welche Aufgaben Plattformen übernehmen sollten, um Betroffene besser vor Gewalt zu schützen.
  • „Recht und Technik im Wandel“: Wir möchten unsere Internetseite https://www.aktiv-gegen-digitale-gewalt.de/de/  überarbeiten und um weitere relevante Informationen ergänzen, z.B. Internet of Things (IoT). Wir möchten darüber informieren, was es bei Smarthomes zu bedenken gibt, sowie welche mögliche Gefahren damit einhergehen, wenn bspw. die Waschmaschine mit dem Internet verbunden ist.
  • Stärkung des Unterstützungssystems: Das Grundlagentraining zum Thema digitale Gewalt, welches von Fachberatungsstellen in Anspruch genommen wird, werden wir in Präsens stattfinden lassen. Dafür wollen wir deutschlandweit eine Art „Tour“ machen, in deren Rahmen jährlich ca. 2 Vorträge gehalten werden. Zusätzlich sollen auch online Vertiefungstrainings angeboten werden, z.B. über Zivilrecht. Im Laufe des Projekts möchten wir uns mit den Bedarfen für die kommenden Jahre auseinandersetzten, so dass am Ende Ideen für ein „Train the Trainer*innen“ Konzept zusammengetragen werden können.
  • Professionelle Vernetzung: Bei einer Gewaltdimension, die sich so rasant entwickelt, wie die der digitalen Gewalt, ist eine Vernetzung extrem wichtig. Ohne diese ist es nicht möglich, bei den Anforderungen hinterher zu kommen. Daher planen wir im nächsten Jahr ein Barcamp durchzuführen, das die Vernetzung stärken soll. Voraussichtlich werden wir auch eine Mailingliste entwickeln, auf denen alle wichtigen Akteur*innen für diesen Bereich auftauchen.

Was genau bedeutet digitale Gewalt?

Kerstin Demuth: Unter digitaler Gewalt verstehen wir alle Gewaltformen, die sich entweder technischer Hilfsmittel oder digitaler Medien bedienen. Das kann beispielweise bedeuten, dass Computerprogramme benutzt werden, um einer Person Gewalt anzutun. Es kann aber auch Überwachung sein, die etwa über das Smartphone oder über GPS Tracker erfolgt, die den Betroffenen zugesteckt werden.

Wo und wie findet digitale Gewalt statt und welche gesellschaftlichen Faktoren tragen dazu bei?

Sandra Boger: Digitale Gewalt kann im Prinzip überall stattfinden, da viele Leute ihr Handy die meiste Zeit mit sich tragen, und regelmäßig Computer benutzen. Hinzu kommt das die Thematik sehr breit gefächert ist. Das Thema „Hatespeech“ hat mittlerweile eine große mediale Präsenz, allerdings wollen wir im Rahmen des Projekts eher den Schwerpunkt auf digitale Gewalt legen, die sich im sozialen Nahraum der Betroffenen abspielt. Das kann z.B partner*innenschaftliche Gewalt sein bei der mithilfe des Handys gestalkt wird, sich aber auch auf Gewaltausübung durch Arbeitskolleg*innen beziehen, die im digitalen Raum stattfindet. Dies geschieht u.a. durch Cybermobbing in arbeitsinternen Chats, aber auch in Bereichen von social media und anderen online Plattformen. Das Ganze bezeichnen wir dann als plattformbasierte digitale Gewalt. Grundsätzlich handelt es sich aber um einen sehr großen Bereich, in dem selbst durch programmierbare Waschmaschinen Gewalt ausgeübt werden kann. So könnte ein Expartner diese so programmieren, dass sie nachts um 3 Uhr losgeht, um der Expartnerin Angst zu machen. Genau das ist u.a. mit dem Begriff „IoT“ (Internet of Things) gemeint. Zudem findet digitale Gewalt auch auf Social Media und auf Gaming-Plattformen oder über Direktnachrichten auf dem Messenger statt.

Wie verbreitet ist dieses Phänomen der digitalen Gewalt in der Arbeitswelt?

Kerstin Demuth: Es gibt derzeit insgesamt noch sehr wenig Studien zu digitalisierter Gewalt, besonders in Deutschland. Die Thematik wird bis jetzt vor allem unter „sexueller Belästigung“ gefasst. So zitiert der dritte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung die Studie der ADS, die von Schröttle et al. erstellt wurde, in der Cyberbelästigung als eine Form der sexuellen Belästigung im Arbeitskontext genannt wird. Leider gibt die Studie nicht her, wie häufig das vorkommt. Insgesamt sehen wir, dass folgendes selten differenziert erhoben wird: Welche Gewaltformen waren das tatsächlich, eben weil dieser Schirm „Digitale Gewalt“ so breit ist? Wer sind die Betroffenen? Was war der Tatkontext?

Wer ist besonders betroffen von digitalen Formen sexueller Gewalt am Arbeitsplatz und welche Rolle spielt dabei intersektionale Diskriminierung?

Kerstin Demuth: Wir sind sehr überzeugt davon, dass das Erfahren von digitaler Gewalt in der Arbeitswelt auch mit Intersektionalität zusammenhängt: Ja, Frauen sind anders und schwerer betroffen, marginalisierte Geschlechter sind mehr betroffen als Männer, dennoch macht es einfach einen Unterschied in der Qualität und in der Häufigkeit von Gewalt, ob eine Person z.B. eine Behinderung und/oder einen Migrationsgeschichte hat. Hinzu kommen z.B. auch ökonomische Faktoren, die Gewalt für Betroffene schwerwiegender machen.

Gerade am Arbeitsplatz sind grundsätzlich Machtdynamiken vorhanden. Das kann bedeuten als Selbstständige den Kund*innen oder auch den Hierarchien, die ein angestelltes Arbeitsverhältnis mit sich bringt, ausgeliefert zu sein. Daher ist es grundsätzlich schwieriger sich daraus zu befreien, weil daran die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen hängt.

Wir empfehlen bestimmte Grundlagen des persönlichen Datenschutzes zu beachten und bestimmte Anwendungen zu vermeiden, wie z.B. ein Smarthome.

Wenn eine Person mit Behinderungen auf bestimmte Technologien angewiesen ist, zum Beispiel einen Screenreader, oder Sprachsteuerung an Alltagsgeräten wie Lichtschaltern etc. – dann funktionieren viele Tipps nicht, die wir eigentlich zur Prävention von digitaler Gewalt geben würden. Ebenso, wenn eine Person auf Assistenz angewiesen ist und mit der Assistenzperson ihre Passwörter teilen muss. Eine derartige Situation erschwert maßgeblich sich präventiv vor Gewalt zu schützen bzw. diese zu unterbinden.

Welche Formen digitaler Gewalt gibt es am Arbeitsplatz? Könnt ihr Beispiele nennen?

Sandra Boger: Zunächst gibt es „Hatespeech“, aus meiner Sicht die bekannteste Form der digitalen Gewalt, die Beschimpfung, Bedrohungen bezeichnet. Dabei werden Betroffene teilweise mit einer massenhaften Anzahl von E-Mails bzw. Nachrichten konfrontiert, die eine übermächtige Wirkung erzeugen können.  Das hat meistens eine geschlechtsspezifische Komponente, indem Frauen sexualisiert und diffamiert werden. Der Begriff „Doxing“ beschreibt das document racing, also die Verfolgung über Dokumente. Es werden Daten von Betroffenen, sowie teilweise auch von deren Angehörigen und Bekannten gesammelt, z.B. Adresse, Telefonnummer, Wohnort und Arbeitsstelle, die dann für Drohungen genutzt werden. Vor allem betroffen vom sog. „Doxing“ sind Leute, die auch in der politischen Öffentlichkeit stehen. Im Arbeitskontext kann dies genutzt werden, um Betroffene dazu zu bringen ihre Position aufzugeben. Eine weitere Form digitaler Gewalt ist der Identitätsdiebstahl. Dieser kann auch im Arbeitskontext auftauchen, indem eine Person sich als jemand anderes ausgibt. Dies kann dafür genutzt werden, um im Namen der Betroffenen andere Personen zu beleidigen oder Dinge zu kaufen. Cybermobbing bedeutet eine Person über Chat, E-Mail mit Ausgrenzungen, Verspottungen und Beleidigungen zu konfrontieren, aber eben auch so, dass Kolleg*innen es mitbekommen. Stalking ist eine Variante, die grundsätzlich mehr im Nahraum stattfindet, aber auch am Arbeitsplatz vorkommen kann: Denn natürlich gibt es im Arbeitskontext durchaus auch Beziehungen. Beispielsweise ist es möglich, dass ein Kollege die Arbeitszeiten oder die sozialen Kontakte der betroffenen Person beobachtet, sowie private Informationen wie Urlaubszeiten oder Ziele herausfindet, um mehr über die betroffene Person zu erfahren. Stalking kann über digitale Medien beginnen, um dann in der Realität fortgesetzt zu werden. Meistens geht es jedoch Hand in Hand, indem beide Aspekte parallel stattfinden. Das Thema „IoT“, das ich zuvor schon angesprochen hatte, würde ich eher im privaten Bereich als am Arbeitsplatz verorten. Dabei kommt jedoch dazu, dass durch das Thema Homeoffice, das Ganze etwas verschwimmt. Digitale Gewalt im Homeoffice kann sehr vielfältige Formen annehmen. Grundsätzlich können all diese Ausprägungen der digitalen Gewalt bei Betroffenen das Gefühl von Ohnmacht auslösen.

Welche Auswirkungen kann digitale Gewalt am Arbeitsplatz auf die Betroffenen haben?

Sandra Boger: Wichtig ist bei der Thematik folgendes, auch wenn häufig zwischen digitaler und „realer“ Gewalt unterschieden wird; digital Gewalt ist real und es ist eine omnipräsente Gewalt. Das bedeutet die Auswirkungen können für die Betroffenen körperlich und psychisch enorm sein. Wenn eine Person die bspw. in einer Führungsposition tätig ist, von ihrem Expartner unter Druck gesetzt wird, indem er droht Nacktbilder von ihr ins Internet zu stellen, kann es bei der Betroffenen dazu führen, dass die Angst davor entsteht zur Arbeit zu gehen. Die Sorge davor am Arbeitsplatz bloßgestellt zu werden kann somit zur Arbeitsunfähigkeit führen. Generell können bei digitaler Gewalt die Folgen genauso belastend sein für Betroffene, wie bei Gewalt  in der „realen“ Welt. Es kann bis hin zu Suizidversuchen alles dabei sein. Bei den Folgen digitaler Gewalt kann es sich um eine sehr hohe Belastung handeln, bspw. da Betroffene teilweise ihr Handy nicht einfach ausschalten können, da dieses für sie auch ein Mittel zur Teilhabe an der Gesellschaft sein kann. Durch digitale Gewalt wird Betroffenen diese Möglichkeit genommen.

Was können Arbeitgeber*innen tun, um das Risiko für digitale Gewalt am Arbeitsplatz zu minimieren? An wen können sie sich wenden, wenn sie Beratung oder Fortbildung brauchen?

Sandra Boger: Arbeitgeber*innen können sich grundsätzlich an Frauen- bzw. Fachberatungsstellen gegen Gewalt wenden. Der bff ist diesbezüglich sehr gut aufgestellt. Zudem gibt es die Möglichkeit IT-Spezialist*innen zu kontaktieren, sowie im Fall der Einleitung von rechtlichen Schritten die Unterstützung von Anwält*innen einzuholen. Darüber hinaus können Arbeitgeber*innen sich mit Gewerkschaften und/oder Betriebsrät*innen vernetzen. Diese verfügen ggf. über Empfehlungen bezüglich Maßnahmen bei Gewalt am Arbeitsplatz. Da es die Aufgabe von Betriebsrät*innen ist sich für die Arbeitnehmer*innen einzusetzen, ist es sehr wichtig, dass die Thematik digitaler Gewalt erstgenommen wird, wenn Betroffene in die Beratung kommen. Dabei ist es zentral, dass das Verständnis „digitale Gewalt ist reale Gewalt“  bei Führungskräften und Ansprechpersonen im Betrieb angekommen ist, da eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz im digitalen Raum nicht weniger schwerwiegend ist, als Belästigung die bspw. im realen Bürosetting sattfindet. Es ist auch wichtig, parteilich zu handeln und nicht „Victim Blaming“ zu reproduzieren, wenn digitale Gewalt am Arbeitsplatz passiert. Letzteres ist leider noch immer häufig der Fall. Dabei wird Betroffenen die Verantwortung für ihre Gewalterfahrung zugeschrieben, indem ihnen beispielsweise vorgeworfen wird, sie würden ihr Handy nicht richtig nutzen, zu unvorsichtig sein oder ihre Passwörter zu leichtfertig freigeben. Natürlich ist es wichtig, dass Menschen aufgeklärt sind und sich selber schützen können, dennoch ist „Victim blameing“ nichts was Betroffenen in dieser Situation hilft. Zudem ist es wichtig, dass Arbeitgeber*innen, wenn sie von Betroffenen mit deren Erfahrungen in Bezug auf digitale Gewalt am Arbeitsplatz konfrontiert werden, konkrete Nachfragen stellen. Sie müssen sich über das Thema informieren (bsp. durch Unterstützung der Fachberatung) und bei jeder Maßnahme zum Schutz vor digitaler sexueller Belästigung am Arbeitsplatz die Selbstbestimmung der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen. Denn nicht alle Betroffenen wollen Anzeige erstatten oder zur Polizei gehen, manche wollen sich doch auf diese Art und Weise wehren. Dementsprechend ist es wichtig, dass verantwortliche Arbeitgeber*innen und Führungskräfte  den Wunsch der Person, die Gewalt erfahren hat, unterstützen. Zudem ist es extrem wichtig die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu wahren. So sollte in einem Fall von Cybermobbing, nicht automatisch alle Kolleg*innen dazu befragt werden, um die Betroffenen zu schützen. Grundsätzlich sollten alle Handlungen nur auf der Basis des Einverständnisses der Betroffenen stattfinden! Im Prinzip geht es darum schnell und solidarisch zu handeln. Beratungsstellen sind nicht nur für Betroffene, sondern auch für Unterstützer*innen offen, unabhängig davon ob es sich um Kolleg*innen oder Chef*innen handelt.

Welche Maßnahmen können Arbeitnehmer*innen ergreifen, um sich vor digitaler Gewalt am Arbeitsplatz zu schützen?

Kerstin Demuth: Bei der Frage finden wir es wichtig hervorzuheben, dass es eigentlich nicht richtig ist, dass die potenziell Betroffenen sich immer selbst schützen müssen. Stattdessen sollte es klar sein, dass es auch institutionalisierte Mechanismen geben sollte, die u.a. verhindern, dass Täter überhaupt zu Tätern werden. Die Schuld liegt da ganz klar, bei denen, die Gewalt ausüben. Wer sich schützen möchte, was ja durchaus auch gut ist, kann das tatsächlich durch Beachtung bestimmter Datenschutzprinzipien, wie etwa durch Beachtung der Datensparsamkeit. Wenn z.B. durch das Arbeitsumfeld erwünscht ist, Social-Media-Accounts miteinander zu teilen, sollte darauf geachtet werden, welche Informationen auf diesen preisgegeben werden. Dass dort keine freizügigen Urlaubsfotos sein sollten, ist eine Empfehlung, die ich auch mit Unbehagen ausspreche, da eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass seitens Arbeitgeber*innen nicht wieder Druck aufgebaut werden darf,  dass sich Mitarbeitende mit Kolleg*innen auf Social Media anfreunden sollen,  noch das Inhalte von Kolleg*innen oder Vorgesetzten  für Bedrohung oder Belästigung überhaupt verwendet werden können. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Sensibilisierung für digitale Gewalt im Arbeitskontext noch wirklich eine Leerstelle darstellt. Gewerkschaften oder Betriebsräte, die für Arbeitnehmer*innen als Anlaufstellen naheliegend sind, sind häufig nicht sensibilisiert, obwohl wir den Eindruck haben, dass es besser wird. Daher würden wir im Fall der Fälle, dass sich Betroffene digitaler sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz empfehlen, sich an Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe zu wenden, da dort die Wahrscheinlichkeit höher ist, an eine Ansprechperson zu geraten, die sensibel mit der Thematik umgeht.

Wie sollten Fälle von bildbasierter sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz gemeldet und behandelt werden?

Kerstin Demuth: Das allerwichtigste ist für Betroffene von Gewalt, dass sie den Rücken gestärkt bekommen und dass in dieser belastenden Situation nicht in Frage gestellt wird, ob sie selber schuld sein könnten, denn das sind sie nicht. Die Sanktionen dürfen nicht so aussehen, dass die Betroffene die Abteilung wechselt und dann noch dazu angehalten wird, den Mund zu halten. Stattdessen sollte die Selbstbestimmung der Betroffenen immer im Vordergrund stehen. Bildbasierte sexualisierte Gewalt ist eine Form, die besonders stark geschlechtsspezifisch ist, da sie ganz oft gegen Frauen, trans und nicht-binäre Personen verwendet wird, um sie zu bedrohen und zu demütigen. Die Problematik bei digitalen Bildern ist, wie auch bei anderen Inhalten, sofern sie irgendwo mal geteilt wurden, dass sie schwer wieder einzufangen sind. Da gilt leider auch der pauschale Satz „Was einmal im Internet ist, ist immer im Internet“. Deshalb ist es sehr hilfreich, wenn diesbezüglich eine schnelle Schadensbegrenzung eingeleitet wird. Je schneller Bilder gelöscht werden, desto weniger Leute haben Zeit, diese runterzuladen und weiterzuverbreiten. In diesem Szenario ist auch die Frage: Wie viele Kolleg*innen wissen schon davon? Ist es der Fall, dass jemand per Privatnachricht dieses Bild von der Betroffenen bekommen hat und es dann ins Internet stellt? Oder geht es darum, dass ein intimes Bild im Kolleg*innen-Chat geteilt wurde und damit eine Mobbingdynamik einhergeht? Vor allem im letzteren Fall muss Aufklärung im ganzen Team stattfinden, denn es kann nicht sein, dass umstehende Kolleg*innen bei der Ausübung digitaler sexueller Belästigung und Gewalt mitmachen oder sie einfach ignorieren.

Welche rechtlichen Konsequenzen kann es für Täter*innen von digitaler Gewalt am Arbeitsplatz geben?

Kerstin Demuth: Das kommt ganz stark auf die Gewaltform an. Wir sehen glücklicherweise, dass sich im Strafrecht schon viel getan hat, um den Anforderungen der Digitalisierung gerecht zu werden.
Beispielsweise wurde der Strafbestand der Nachstellung, also Stalking, extra angepasst im Hinblick auf eine niedrige Strafbarkeitsschwelle und mit ausdrücklicher Erwähnung von digitalen Gewaltformen, wie z.B dem Abfangen von Passwörtern und dem Diebstahl von Daten. Es gibt aber auch Strafrechtsparagraphen, die auf bildbasierte Gewalt zugeschnitten sind, wie vor allem der 201a „Verletzung des intimen Lebensbereichs mit Bildaufnahmen“ sowie der 184a, der sogenannte „Upskirting“-Paragraph, bei dem es darum geht, dass Leute unter Röcke oder in Blusen reinfotografieren. Es gibt auch andere Wege über die das Verbreiten von Bildern geahndet werden kann, z.B. wenn die betroffene Person das Bild selbst gemacht hat, da dort gegen das „Kunsturhebergesetz“ verstoßen wird. Das Strafgesetz ist schon etwas weiter was Digitalisierung angeht, aber es ist in der Anwendung furchtbar langsam. Häufig kommt es dazu, dass die Selbstbestimmung der Betroffenen stark vernachlässigt wird, denn wenn der Prozess erstmal im Gange ist, haben diese wenig Kontrolle darüber. Auch Befragungen laufen oftmals unsensibel ab. Verfahren werden teilweise eingestellt oder Täter freigesprochen und das kann extrem belastend sein.
Deshalb ist das Zivilrecht zielführender. Hier liegt das Problem jedoch vor allem bei der Kostenübernahme. Betroffene müssen in diesem Fall in Vorleistung gehen, um sich ein*e Anwält*in zu leisten. Der Vorteil bei diesem Weg ist jedoch, dass es weniger Behördenkontakt und Auseinandersetzung mit der Tat bedarf, was eine Entlastung für die Betroffenen sein kann.
Bei digitaler Gewalt geht es auch um Schnelligkeit, insbesondere bei allem, was im Internet steht. Deshalb sind so etwas wie Unterlassungsansprüche oder Löschansprüche gegen Täter und Plattformen oft sehr hilfreich, da diese schnell in die Wege geleitet werden können. Aber auch da gilt, in Bezug auf Intersektionalität: Wenn ich nicht das Geld habe mir eine*n Anwält*in zu leisten, dann hilft das nicht. Hinzu kommt das Kostenrisiko: Man weiß vorher nicht, dass man gewinnt und wenn man das nicht tut, trägt man unter Umständen auch noch die Gerichtskosten und die Anwält*innkosten des Täters.

Welche Rolle spielen IT-Systeme und -Plattformen bei der Verhinderung von digitaler Gewalt am Arbeitsplatz?

Kerstin Demuth: Im konkreten Setting Arbeitsplatz macht eine datensparsame IT-Infrastruktur mit einer klaren Rollenverteilung, die reguliert, wer Zugriff auf welche Daten hat, einen großen Unterschied.

Wenn es generell um gesamtgesellschaftliche digitale Gewalt geht, ist die Rolle von Plattformen und IT-Herstellern zentral. Apple und andere Unternehmen bauen Bluetoothtracker, die dafür vermarktet werden, um sie beispielsweise an Rucksäcke zu clippen, um diese im Fall eines Diebstahls durch die Möglichkeit der präzisen Ortung wiederfinden zu können. Natürlich wird diese Technologie auch von Stalkern verwendet. Das hätte man schon im Entwicklungsprozess erkennen und bedenken müssen.
Durch die Tatsache, dass die IT-Szene weiß und cis-männlich dominiert ist, ist es wahrscheinlich, dass solche Aspekte nicht im Entwicklungsprozess thematisiert werden. Es kommt somit zu einem selbstverstärkenden Prozess in dem IT-Geräte auf den Markt geworfen werden, die Gewalt verursachen, während sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Frauen davon abhält in der IT-Branche tätig zu werden. Exklusionsmechanismen in IT-Berufen sorgen dafür, dass die Perspektiven marginalisierter Menschen gar nicht vertreten sind. So werden Gewalterfahrungen nicht mitgedacht und das schlägt sich in den Produkten nieder. Diesen Kreislauf müssen wir unbedingt durchbrechen. Diesbezüglich würden wir uns eine verpflichtende Technikfolgenabschätzung wünschen, die das Thema Gewalt miteinbezieht. So müssten Unternehmen vor dem Verkauf ihrer Produkte Strategien offenlegen, die verhindern sollen, dass Produkte wie Trackinggeräte beispielsweise für Stalking missbraucht werden.

Bei den Plattformen gibt es zudem eine starke Markkonzentration, die zu Macht führt. So teilen sich Google und Facebook ca. 80% Prozent des Onlinewerbemarktes auf, d.h. es handelt sich fast um Monopole mit denen wir Verhandeln und die Politik scheint nicht immer ganz die Courage zu haben, da mutig zu regulieren. Bei der Datenschutzgrundverordnung ist das erstaunlich gut gelungen, aber an ganz vielen Stellen bleibt die Regulierung hinter dem zurück, was es eigentlich bräuchte. Und zwar vor allem da, wo es wehtut: nämlich beim Geld. Für die Plattform ist die Rechnung ziemlich einfach: Je mehr Interaktion und Traffic auf der Plattform geschieht, desto höher die Werbeeinnahmen. Gewaltvolle Posts bekommen viel Interaktion, wodurch es zu einem Interessenkonflikt kommt. Es ist nachweislich so, dass Plattformen absichtlich nichts beziehungsweise zu wenig dagegen tun, weil sie natürlich den Traffic und die Werbeinnahmen generieren wollen, die mit diesem einhergehen.
Deshalb wäre mein Vorschlag, dass es auch an dieser Stelle Regulierungen braucht, die am Geld ansetzen.
Es kann nicht sein, dass Betroffene von Gewalt etwa Anwält*innen- und Gesundheitskosten, sowie Erwerbsausfälle und den dadurch entstehenden persönlichen und finanziellen Schaden ertragen müssen.  Wer räumt denn dahinter auf? Das überforderte Justizsystem und die Strafverfolgung, und die Betroffenen selbst. Eigentlich müssten Plattformen dafür bezahlen, dass die gesellschaftlichen Folgen getragen werden und da sehe ich noch unglaublich viel Spielraum.

Wo erhalten Betroffene von digitaler Gewalt Hilfe und Unterstützung?

Sandra Boger: Es gibt beispielsweise die Internetseite „Hilfe vor Ort“ vom bff, auf der recherchiert werden kann, welche Fachberatungsstellen sich in der Nähe befinden und welche Stellen sich explizit mit der Thematik „digitale Gewalt“ beschäftigen.  Zudem gibt es Hateaid und Hatefree, zwei Organisationen, die zum Thema „hatespeech“ arbeiten und mit Anwält*innen kooperieren. Ein weiteres, feministisches Projekt des Chaos Computer Club (CCC) ist die Internetseite https://antistalking.haecksen.org/. Dort finden Betroffen Unterstützung, wenn sie Cyberstalking erfahren, u.a. in Form von Tipps, durch die Betroffene herausfinden können ob sie gestalkt werden. Bei bildbasierter Gewalt gibt es auch die Seite Anna Nackt unter https://annanackt.com/home-de, die Unterstützung für Menschen bietet, von denen Nacktbilder durch das Internet verbreitet wurde. Diese wurde von einer Person gegründet, die die Erfahrung machen musste, dass gegen ihren Willen Nacktfotos von ihr im Internet verbreitet wurden. Indem sie die Geschichten von Betroffenen gesammelt hat, schuf sie einen solidarischen Raum für andere Betroffene.

Gibt es Studien zu diesem Thema, die ihr empfehlen könnt?

Sandra Boger: Die Studienlage ist generell relativ schlecht, wir berufen uns meistens auf die Zahlen der Amnesty Studie aus dem Jahr 2017. Und insbesondere bei digitaler Gewalt geht es um einen sehr schnelllebigen Prozess, in dem sich die Gewaltformen verändern, wodurch es problematisch sein kann sich auf alte Zahlen zu berufen. Daher ist es dringend notwendig aktuelle Studien zu der Thematik vorliegen zu haben. Es gib eine Studie unter dem Namen Sicherheit und Kriminalität in Deutschland – SkiD, die im letzten Jahr veröffentlicht und von der Polizei durchgeführt wurde. In dieser wurde digitale Gewalt zwar thematisiert, dennoch deckt sie nicht in Gänze alle Aspekte ab zu denen wir Zahlen benötigen würden. Was sich jedoch nicht verändert ist, dass Frauen überproportional mit geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert werden und dabei Menschen mit intersektionalen Diskriminierungserfahrungen besonders schwer betroffen sind.

Dankeschön für eure Zeit und eure Expertise!

Das Interview führte Ceyda Keskin (makeitwork@bv-bff.de) vom bff Projekt „make it work!“ mit Unterstützung durch unsere Praktikantin Lea Springer.