Interview mit Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione zum Thema sexuelle Diskriminierung, Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz

 

„Erst durch Vernetzung und politischen Willen können wir Dinge wirklich verändern“

Prof. Dr.med. Sabine Oertelt-Prigione, MScPH, hat seit Sommer 2017 den Lehrstuhl für Gendermedizin an der Radboud Universität in Nijmegen, Niederlande, inne. Sie ist zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechtsmedizin der Charité tätig.

Sie hat  in der Studie Watch Protect Prevent (WPP) zur Prävention sexueller Belästigung an der Charité – Universitätsmedizin von 2014 bis 2017 untersucht, was Institutionen, Betriebs- bzw. Personalräte und Arbeitgeber gegen diesen Missstand tun können. Dafür hat sie unter anderem in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung 120 betriebliche Vereinbarungen aus dem öffentlichen Dienst, der Industrie und dem Dienstleistungssektor ausgewertet.

Aktuell begleitet Sabine Oertelt-Prigione  unter anderem auch das Max Delbrück Zentrum für molekulare Medizin bei der Erstellung von Leitlinien für einen respektvollen Umgang.

Frau Oertelt-Prigione, wie sieht Ihre Arbeit gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aus, was sind Ihre wichtigsten Erfahrungen?

Ich betrachte das Thema aus einer Forschungsperspektive. Das heißt, ich fokussiere mich auf den  wissenschaftlichen Teil der Arbeit, während die Kolleginnen aus dem Gleichstellungsbereich die Beratungen durchführen. Diese Trennung macht zum einen Sinn, um eine wissenschaftliche Unabhängigkeit behalten, zum anderen ist meine Kernkompetenz einfach die Wissenschaft, ich bin keine Beraterin. Meine Rolle ist es, Daten zu  liefern, die auch ermöglichen, den politischen Prozess für dieses Thema weiter zu bringen, und das ist dringend notwendig, damit Betroffene besser unterstützt werden können, aber auch, um diejenigen zu stärken, die die  Beratung durchführen.

Warum macht es Sinn, sich mit dem Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu  beschäftigen?

Wir wissen inzwischen, dass es jeden und jede betreffen kann – obgleich manche sicherlich vulnerabler sind als andere. Gerade in Bezug auf Belästigung und Grenzüberschreitung am Arbeitsplatz ist der Vorteil, dass dieser Bereich rechtlich theoretisch geschützt ist. Das muss viel mehr bekannt werden.

Spätestens die hohen Betroffenenzahlen zeigen:  hinter der Thematik stehen strukturelle Bedingungen, das ist entscheidend zu wissen. Und das bedeutet, dass Führungskräfte und Leitungsebenen ganz klar Prioritäten setzen müssen, ihre Arbeitnehmer*innen zu schützen. Sexuelle Belästigung passiert nicht einfach so. Niemand wacht morgens auf und denkt sich: ‚heute belästige ich mal‘. Nein, Grenzüberschreitungen in ihrer vielfältigen Ausformung sind Phänomene, die sich in einer bestimmten Gesellschafts- und Arbeitskultur entwickeln. Und das ist immens wichtig, eine gute und respektvolle Kultur des Miteinanders am Arbeitsplatz zu entwickeln. Das gilt nicht nur in Bezug auf den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Diese Arbeit für eine Kultur des Miteinanders  gibt uns die Möglichkeit, darüber ins Gespräch zu kommen, was wir an Arbeitsstrukturen ändern müssen, damit Arbeit für alle bereichernd sein kann.

Vernetzung und gegenseitiges Lernen finde ich auch extrem relevant und deswegen ist ihr Projekt auch so wichtig. Es geschieht immer noch sehr viel isoliert in einzelnen Unternehmen und Organisationen, wir müssen dieses Wissen teilen und nach außen bringen um den Prozess zu beschleunigen. Dazu braucht es zwar Expertise, aber erst durch Vernetzung und politischen Willen können wir wirklich Dinge verändern.

Welche Herausforderungen und Hürden sehen Sie spezifisch in Ihrem Arbeitsbereich?

Eine Herausforderung im medizinischen Bereich – wie auch in anderen Organisationen -  sind sicherlich die starken Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse. Abhängigkeiten können sich dabei strukturell oder bereichsbedingt zeigen,  bspw. aufgrund befristeter Verträge oder spezifisch im Bereich Forschung, wenn Daten, mit denen Promovierende arbeiten müssen, faktisch Betreuenden gehören.  Innerhalb dieser Strukturen zu schauen, wie kann man verantwortlich mit den Hierarchien umgehen – denn Belästigung hat ja immer etwas mit der Ausübung und Ausnutzung von Macht zu tun - wie kann man sie vielleicht langfristig aufweichen und: Wie kann man innerhalb solcher Rahmenbedingungen jetzt gleich Menschen schützen und langfristig am besten die Bedingungen so ändern, dass bestimmte Dinge nicht mehr bestehen. Das ist nicht so leicht.

Prinzipiell schwierig ist auch ein gewisser Umgang und ein gewisses Bild, das über Jahrzehnte verfestigt wurde. Das heißt: Wer wird Führungskraft in der Medizin? Was für einen Habitus bringen diese Personen mit sich? Was ist das für ein Bild nach dem wir streben und ist das noch zeitgemäß? Das berührt natürlich auch ganz stark Geschlechterbilder und Geschlechterklischees.

Wir haben ja im Bereich sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mit den großen öffentlichen Debatten eine besondere Situation, eine besondere Aufmerksamkeit für das Thema. Was muss Ihrer Ansicht nach der Debatte jetzt folgen?

Erst einmal ist es gut, dass wir diese Debatte haben und hatten. Sie war und ist dringend nötig,  damit das Thema enttabuisiert wird. Grade auch im medizinischen Bereich denken viele: wir helfen Menschen, wir retten Menschenleben, dass ‚sowas‘  bei uns passiert passt gar nicht. Aber wir wissen: sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt kann überall passieren, passiert überall, kann jede*n betreffen. Es ist ein pervasives gesellschaftliches Problem. Wir haben es hier weder nur vereinzelt mit Betroffenen noch vereinzelt mit Tätern zu tun. Nun müssen wir diese Erkenntnisse  verfestigen und die Verantwortlichen in den Organisationen in die Pflicht nehmen, Maßnahmen umzusetzen und Beschäftigte zu schützen.

Wir wissen, dass es viele Maßnahmen gibt, vorzugehen. Jetzt müssen die Führungsebenen in den Unternehmen sich positionieren und aktiv einschreiten. Sie müssen ihre Fürsorgepflicht erfüllen. Wichtig ist, dass sie sich nicht nur verbal bekennen, sondern wirklich etwas verändern, Rechte bekannt machen. Transparenz ist dabei ein ganz wichtiges Stichwort. Zuvorderst ist das die Transparenz über Beschwerdeabläufe.  Wir wissen:  sehr häufig werden Betroffene abgeschreckt, weil sie  - zu Recht - denken, wenn sie eine Meldung machen, passiert etwas, das sie nicht wollen.  Oft ist eine niederschwellige Beratung alles was sich Betroffene wünschen. Es muss unbedingt transparent sein, was in einem Beschwerde- und  Beratungsprozess passiert, wie viel Vertraulichkeit zugesichert werden kann. Die Hürden sich zu öffnen müssen für die Betroffenen so niedrig wie möglich sein. Das heißt, innerhalb eines Betriebes sollte es gut geschulte Ansprechpersonen und Anlaufstellen geben. Die Frage der Verschwiegenheit muss unbedingt geklärt sein. Es muss in der Hand der Betroffenen liegen, was geschieht. Zusätzlich müssen in den Unternehmen unbedingt externe Fachberatungsstellen bekannt sein. Diese beraten und begleiten Betroffene  -und auch diejenigen, die diese unterstützen wollen – professionell. Gerade dort geschieht nichts, was Betroffene nicht wünschen.

Dann ist es wichtig, Mitarbeitende zu sensibilisieren. In den meisten Fällen wird bei Diskriminierungen und Belästigungen Macht ausgespielt, aber wir müssen auch sehen, dass manchmal auch Unwissen, bzw. fehlende Sensibilität ein Grund für bestimmte Grenzüberschreitungen ist – oder auch dafür, sie als Vorgesetzte nicht anzuerkennen. Manche Menschen haben noch nicht gemerkt, dass die Gesellschaft sich verändert hat, dass gewisse Äußerungen heute definitiv nicht mehr akzeptabel sind. Hier muss ein Bewusstsein geschaffen werden, eine Ansprache passieren – auch innerhalb von Belegschaften.  

Und ein dritter ganz wichtiger Punkt ist meiner Erfahrung nach das ‚Bystander Training‘. Den Menschen muss bewusst sein:  am Arbeitsplatz kann man auch als nicht selbst Betroffene*r viel tun, um gegen sexuelle Belästigung und Grenzüberschreitungen vorzugehen, und um Betroffene zu unterstützen und schützen. Auch hier muss Bewusstsein gestärkt werden: Wir müssen füreinander da sein.  Gewisse Verhaltensweisen dürfen nicht toleriert werden. Als nicht betroffene Person sollte man mindestens zu der Person hingehen die betroffen ist. Man kann fragen: Brauchst du was? Wie geht es dir? Kann ich dir helfen? Und ganz entscheidend ist es, die Erfahrung der Person zu validieren. Das macht schon sehr viel.

Wen sehen Sie neben Führungsebenen in Unternehmen  noch in Schlüsselpositionen, wenn etwas gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz unternommen werden soll?

Das ist auch ganz klar die Politik. Wir haben zum einen Verpflichtungen auf Seiten der Arbeitgeber*innen. Aber hinter dem Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz steht ja auch ganz klar die Frage: in was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Ich habe das Gefühl, dass im aktuellen politischen Klima sehr einfache und gleichzeitig stark polarisierende Positionen wieder hervorkommen. Differenzieren ist häufig nicht gewünscht.  Es werden pauschale Positionen vertreten, die häufig nicht der Wissenschaft entsprechen. Dies gilt für die Debatte um Gleichberechtigung, um den Klimawandel, um reproduktive Rechte. Das Problem dabei ist, dass gerade Diskriminierung und Belästigung keine simplen Themen sind. Sie verlangen nach Empathie und Differenzierung. Empathie ist dabei so zu verstehen, dass ich erkennen muss, dass meine persönliche Position, die vielleicht privilegiert ist, mir möglicherweise nicht erlaubt,  die Position und das Empfinden eines anderen Menschen zu beurteilen. Differenzierung, weil es bei Diskriminierung häufig keine Pauschallösungen gibt, die den Bedarfen  der Betroffenen gerecht werden. Das bedeutet dass viele verschiedene Elemente bei der Beratung und Betreuung berücksichtigt werden müssen.

Im Grunde ist das ganze Thema ja verankert in gesellschaftlichen Werten. Wie wollen wir miteinander leben? Was ist das Menschenbild, das wir vertreten? Was bedeutet Respekt für uns? Und wie kann man diese Werte  umsetzen? Was heißt Gleichberechtigung von allen Menschen, die in dieser Gesellschaft leben -  unabhängig von jeglichen Charakteristika. Die Bekämpfung von sexueller Belästigung und sexualisierter Diskriminierung ist somit nur eine Facette eines viel breiteren gesellschaftlichen Diskurses.

Zum Abschluss noch ein Wort von Ihnen zu Best Practice in Organisationen und Unternehmen  – Sie haben ja viel Erfahrung mit der Entwicklung von strukturierten Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.  Was zeichnet eine ernsthafte und sinnvolle Beschäftigung mit dem Thema aus?

Es müssen alle wichtigen Stakeholder  in den Prozess involviert werden. Die Weiterentwicklung oder Veränderung einer Arbeitskultur funktioniert nicht, wenn lediglich ein Vorstand entscheidet, oder bspw. eine kleine Gruppe von Auszubildenden die Notwendigkeit von Maßnahmen erkennt und sich fortbildet. Solche Prozesse sind umso erfolgreicher, je zielgerichteter alle Interessensgruppen von Anfang an eingebunden werden. Wobei es ohne den Willen und die Unterstützung von ganz oben nicht geht. Es ist wirklich wichtig zu schauen, dass die verschiedenen Positionen vertreten sind. Der Prozess, eine Richtlinie zu entwickeln dauert eine bestimmte Zeit, sagen wir ein halbes Jahr, aber dann ist er zu Ende. Dann geht es darum, dass sich die Interessensgruppen mit dem, was da entwickelt wurde identifizieren und es mit Leben füllen, um es weiter zu tragen.  Wenn ein Vorstand – weil es schneller geht oder einfacher scheint, oder weil das Thema formal abgehakt werden soll– über eine externe Beratung einen Code of Conduct entwickeln lässt und dann via Intranet alle Beschäftigten damit beregnet, dann war‘s das, dann passiert überhaupt nichts.  Einbindung ist extrem wichtig, damit Veränderung funktioniert. Ein Prozess ist dann zwar sicher  länger und komplexer, aber die Verankerung in der Organisation ist dann gesichert.  Diese Partizipation ist meines  Erachtens nach unentbehrlich.

Das andere ist die Transparenz – idealerweise als Transparenz des Prozesses verstanden. Das heißt, dass schon bereits bezüglich dessen, was erforscht und erarbeitet wird,  eine Offenheit innerhalb des Unternehmens oder sogar nach außen gezeigt wird. Und wenn das nicht gegeben ist, ist es mindestens die Transparenz darüber, was ein Prozess als Ergebnis mit sich bringt. Hier sind wir wieder bei dem Punkt, dass es für die Beschäftigten extrem wichtig ist zu wissen: was sind meine Rechte, wie läuft eine Beschwerde ab, was passiert in meinem Unternehmen an welchem Punkt, an wen kann ich mich wenden,  welche Optionen habe ich.  Das klingt so einfach – aber da steckt viel Arbeit und Überzeugung dahinter und in der Realität funktioniert das nur bei den wenigsten. Deshalb zeichnet es Best Practice aus.

Dankeschön für Ihre Zeit und Ihre Expertise!

Das Interview führte Anita Eckhardt (makeitwork@bv-bff.de) vom bff Projekt ‚make it work: Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt‘

 

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