Interview mit Dr. Inga Fokuhl Aufsichtsperson für Arbeitssicherheit und Gender-Expertin für die gesetzliche Unfallversicherung

„Da Belästigungen viel zu oft unterhalb des Radars des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes fliegen, kommt bei mir mutmaßlich nur die Spitze des Eisbergs an. Wir müssen aufzeigen, dass sexuelle Belästigungen und Gewalt auf der strukturellen patriarchalen Machtverteilung fußen.“

Dr. Inga Fokuhl ist Fachkraft für Arbeitssicherheit, Qualitätsmanagement-Beraterin und Gender-Expertin im Bereich Arbeitsschutz. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Aufsichtsperson für Arbeitssicherheit für die gesetzliche Unfallversicherung, mit den Schwerpunkten Sicherheit und Gesundheit. Sie ist aktives Mitglied des bundesweiten Netzwerks Gender in Arbeit und Gesundheit, dessen Ziel es ist eine geschlechtergerechte betriebliche Gesundheitspolitik zu befördern.

1.  Liebe Frau Dr. Fokuhl, können Sie uns kurz Ihren Aufgabenbereich in der BGW beschreiben? Was tun Sie als Aufsichtsperson in der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege?

Als Aufsichtsperson bin ich zuständig für die Überwachung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vor Ort in Unternehmen. Zudem werde ich für Beratungen aus den Betrieben angefragt. Die Thematik ist enorm vielfältig, sie reicht von der baulichen Gestaltung und der Maschinensicherheit über den Hautschutz bis zur Reduzierung psychischer Belastungen. Oft  wenden sich Betriebe an mich, wenn es um grundlegende Fragen  rund um das Thema   Arbeitsschutzorganisation und  um die Klärung des Führungsverständnisses im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz innerhalb der  Unternehmen selbst  geht.

Darüber hinaus untersuche ich Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, mache dazu Interviews, veranlasse Messungen am Arbeitsplatz und berate zur Prävention.

2. Was muss ein Unternehmen im Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz für Mitarbeiter*innen hinsichtlich der Thematik Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz machen? Welche gesetzlichen Bestimmungen gibt es? Was sind ihrer Meinung nach – jenseits gesetzlicher Verpflichtungen – sinnvolle Maßnahmen gegen Belästigung und Gewalt?

Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Betriebe die Reglungen des Arbeitsschutzgesetzes  und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes beachten. Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet Arbeitgeber*innen, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, die die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen und formuliert klare diskriminierungsfreie Gestaltungsgrundsätze und die Verpflichtung zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen.  Aber auch jenseits gesetzlicher Regelungen können Unternehmen Maßnahmen verankern, um Arbeitsplätze sicherer zu gestalten: Grade mit Blick auf die Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist eine respektvolle Betriebskultur und eine Null-Toleranz-Haltung der Leitungsebene gegenüber übergriffigem Verhalten sinnvoll und wichtig. Auch die Erarbeitung von Betriebsvereinbarungen, die konkrete Regelungen, so wie Ansprechpersonen für Betroffene und Sanktionen bei belästigendem Verhalten festlegen, kann hilfreich sein. Auch Schulungen und Fortbildungen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz für Führungskräfte helfen Betrieben dabei  Raum für Auseinandersetzung mit dem Thema zu schaffen und gemeinsam Maßnahmen zu entwickeln, wie Beschäftigte besser geschützt werden können.

3. Werden die oben genannten Möglichkeiten und Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Ihrer Meinung nach ausreichend in der Praxis umgesetzt? Wenn nein: Wo liegen laut Ihrer Erfahrungen als Aufsichtsperson die Herausforderungen für Arbeitgeber*innen?

In meiner Arbeitspraxis ist sexuelle Belästigung selten ein Thema. Die Herausforderung in den Unternehmen ist, sich der strukturellen Ungleichheit der Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft und somit auch im Arbeitsverhältnis bewusst zu sein und Maßnahmen dagegen zu entwickeln. Betroffene Frauen müssen ermutigt werden, Null-Toleranz gegenüber sexueller Belästigung zu leben. Das heißt zum Beispiel in der ambulanten Pflege, dass die grundsätzlich allein arbeitenden ambulanten Pflegekräfte Belästigungen nicht akzeptieren müssen, ihre Vorgesetzten solche Fälle gemeldet bekommen und auf die Kund*innen/zu pflegenden Personen & deren Angehörige einwirken, dass übergriffiges Verhalten zu unterbleiben hat. Im Wiederholungsfall müssen beispielsweise Verträge mit Kund*innen gekündigt werden können.

4. Was bräuchte es, damit die Umsetzung von Schutzmaßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz besser gelingt? Wie unterstützen Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit bei der BGW Unternehmen in diesem Zusammenhang?

Ganz wichtig ist es, dass die Leitungskräfte in den Betrieben klar machen, dass das Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kein Tabuthema ist und dass eine Betriebskultur geschaffen wird in der Belästigungen offen angesprochen werden können. Ein Anfangspunkt kann sein, dass es nach #metoo mittlerweile in vielen Unternehmen angekommen ist, dass beispielsweise sexuelle Gewalt durch Kund*innen nicht geduldet werden muss. Die Haltung, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein No-Go ist kann ein Ausgangspunkt sein, um konkrete Maßnahmen zu entwickeln.

5. Können Sie uns Beispiele gelungener Umsetzung gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nennen?

Ein Beispiel aus der Praxis stammt aus meiner Zusammenarbeit mit einem ambulanten Pflegedienst:  Dort wurde beschlossen, dass im Fall sexueller Belästigungen von Beschäftigten nur noch die Leitung die Pflege bei aggressiven und übergriffigen Kund*innen übernimmt. Im Fall, dass Patient*innen das Verhalten nicht unterlassen, wird der Pflegevertrag gekündigt.

Ein anderes Beispiel zum Umgang mit Vorfällen kann ich aus der Arbeit einer Wohneinrichtung der Behindertenhilfe berichten: Dort wurde die strafrechtliche Verfolgung von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen, die durch einen Bewohner verübt worden waren, durch die Leitung konsequent durchgesetzt. Neben dem Erstatten einer Strafanzeige wurde in diesem Fall letztlich auch der Heimvertrag gekündigt.  

6. Sie sind auch im Netzwerk Gender in Arbeit und Gesundheit aktiv und arbeiten seit vielen Jahren als Gender-Expertin im Bereich Arbeitsschutz. Warum ist eine gendersensible Perspektive im Arbeitsschutz Ihrer Meinung nach wichtig?

Ich bin seit 30 Jahren beruflich mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz betraut. Vor 30 Jahren hatte es eine klare Geschlechtertrennung gegeben. Damit verbunden war ein paternalistischer Auftritt männlicher Experten, die Frauen oftmals nicht ihr Gehör schenkten, sondern deren Themen – auch das Thema sexuelle Belästigung - als Befindlichkeiten abtaten. Es gab eine klare Trennung „Mann-Technik“  versus „Frau-Psyche“. Als eine der ersten Frauen im Arbeits- und Gesundheitsschutz, habe ich einen bedeutenden Beitrag dazu leisten können, dass die gendersensible Perspektive bei Arbeitsschutzkolleg*innen zunehmend eingenommen wird: Beispielsweise erforschte ich in den 2000er Jahren, dass die Rehabilitation von Berufskrankheiten eine bis dato unbekannte Gender-Dimension beinhaltete.

7. Wie kann eine gendersensible Perspektive im Arbeitsschutz konkret integriert werden bsp. bei der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung mit Blick auf Risikofaktoren, die sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz begünstigen?

Konkrete Maßnahmen, um  eine gendersensible Perspektive in den Arbeitsschutz zu integrieren, können beispielsweise im Rahmen von Regelegungen zu Arbeitszeiten, Kinderbetreuungszeiten oder auch Anreisemöglichkeit zum Arbeitsplatz integriert werden: Beispielsweise haben die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Rahmen von Nach- und Frühdiensten oder die Bereitstellung gut angebundener Parkplätze großen Einfluss auf die Sicherheit von Beschäftigten auf dem Weg zum Arbeitsplatz . Neben solchen praktischen Überlegungen ist es immer zentral, dass eine geschlechtersensible Perspektive auf betriebliche Gesundheitspolitik eingenommen wird und vor allem die Leitung hier aktiv wird: Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Führungsthema.

8. Was wünschen Sie sich von der Netzwerkarbeit im Rahmen von „make it work!“ als Aufsichtsperson und Mitglied des Netzwerks? Welche Themen müsste Ihrer Meinung nach debattiert werden?

Mittlerweile geben männliche Fachleute des Arbeitsschutzes (z.B. Fachkräfte für Arbeitssicherheit) dem Thema Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz Aufmerksamkeit. Das ist gut. Oft aber wird sogleich der Fall der Belästigung von Männern durch Frauen hervorgekramt und nimmt einen (viel zu) großen Raum ein. Hierzu benötigen wir Zahlen und Verweismöglichkeiten auf Anlaufstellen für belästigte Männer, denn dieses „ja-aber-andere-sind-auch-betroffen“ ist oftmals eine Abwehrreaktion.

Wir müssen aufzeigen, dass sexuelle Belästigungen und Gewalt auf der strukturellen patriarchalen Machtverteilung fußt, diese ist auch auf dem Arbeitsmarkt wirksam. Das heißt  für mich: Mehr Gleichstellung in den Betrieben, Gender Pay-Gap bekämpfen, Ehegattensplitting abschaffen, Frauen zu Machtpositionen  ermutigen und stärken, Netzwerke gegen sexuelle Belästigung offensiv nach außen tragen und Quotenregelungen in der Wirtschaft durchsetzen.

9. Sie haben einen Wunsch frei – was soll in den nächsten 5 Jahren im Bereich Arbeitsschutz bzgl. des Themas Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz passiert sein?

In 5 Jahren hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung  (DGUV) das Thema in die Präventionskampagne „Kommmitmensch“[1] (www.kommmitmensch.de) integriert und begreift den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz als ein zentrales kulturelles Element der Prävention. Die DGUV zeigt damit, dass eine Null-Toleranz gegenüber sexueller Belästigung gilt.

Ich wünsche mir, dass die Kampagne  auch konkret zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Materialien ausgibt, und dass Betriebe (gerade aus der Dienstleistung wie soziale Betreuung, Pflege, Gesundheitsdienstleistungen) Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz langfristig in ihre Leitbilder mitaufnehmen.

Meiner Meinung nach wäre Kampagnenmaterialien mit Logo, Aufklebern, Informationen, Workshops in allen relevanten Sprachen, für Führungskräfte und für Beschäftigte zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sinnvoll und wichtig. Ich erinnere an die Kampagne der Gewerkschaften, mit der gelben Hand: „mach meinen Kumpel nicht an“, gegen Rassismus. Eine ähnliche Herangehensweise in der Kampagnenarbeit benötigen wir auch gegen Sexismus und sexuelle Belästigung und Gewalt. Es ist integrativer Bestandteil von Prävention, für ein wertschätzendes Klima am Arbeitsplatz zu sorgen – und ALLE Beschäftigten zu adressieren.  

10. Wollen Sie uns noch etwas mitteilen?

Da Belästigungen viel zu oft unterhalb des Radars des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes fliegt, kommt bei mir mutmaßlich nur die Spitze des Eisbergs an. Ich wünsche mir Erhebungen in den Betrieben, damit diese Fälle sichtbarer werden. Ob die BGW hierzu ihren Beitrag leisten kann, muss die Selbstverwaltung der BGW, die sich paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmer*innenvertretungen zusammensetzt, entscheiden. Dies gilt auch für die anderen Berufsgenossenschaften und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV).

Dankeschön für Ihre Zeit und Ihre Expertise!

Das Interview führte Larissa Hassoun makeitwork@bv-bff.de vom bff Projekt „make it work! Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“.

[1] Präventionskampagne der Unfallkassen und Berufsgenossenschaften zum Thema Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.