Interview mit Dr. Heike Schambortski von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)

„Wir brauchen engagierte und einfühlsame Führungskräfte, denen die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ein wichtiges Anliegen ist. Wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass sexuelle Belästigung kränkt, krank macht und gleichberechtigte Teilhabe in der Arbeitswelt verhindert. Wir brauchen ein gut ausgebautes und leicht zugängliches Unterstützungssystem für Betroffene.“

Dr. Heike Schambortski ist leitende Präventionsdirektorin bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Arbeitspsychologin, ausgebildete Krankenpflegerin und langjährige Expertin zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz im Arbeitsschutz. Dr. Schambortski arbeitete zudem an einer der ersten wissenschaftlichen Erhebungen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in Deutschland Anfang der 90er Jahre mit.

1. Liebe Frau Dr. Schambortski, können Sie kurz die BGW und Ihren Arbeitsbereich vorstellen - was tun Sie als Leiterin des Gesamtbereichs Präventionsdienste?

Die Abkürzung BGW steht für „Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege“. Die BGW versichert nichtstaatliche und freigemeinnützige Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialbereich, beispielsweise Kliniken oder Pflegeeinrichtungen. Bei der BGW sind mehr als 750.000 Betriebe mit über 7 Millionen Beschäftigten versichert. Wenn die dort Beschäftigten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten erleiden übernimmt die BGW die Kosten für Heilbehandlung, Rehabilitation oder Renten. Die BGW hat darüber hinaus einen Präventionsauftrag. Dieser umfasst die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Der Präventionsdienst der BGW überwacht und berät deshalb die Betriebe zur Organisation von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, qualifiziert insbesondere Führungskräfte oder informiert im Rahmen von Veranstaltungen und mit geeigneten Medien über den richtigen Umgang mit Gefährdungen.

2. Vielen ist nicht bekannt, dass das Thema sexuelle Belästigung und Gewalt überhaupt etwas mit Arbeitsschutz zu tun hat. Können Sie uns diese Verbindung erklären?

Im Arbeitsschutzgesetz steht, dass es in der Verantwortung von  Arbeitgeber*innen liegt, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Um das sicherzustellen, sind Arbeitgeber*innen gesetzlich verpflichtet, Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen. Damit ermitteln sie, welche physischen und psychischen Gefährdungen vorliegen und welche geeigneten Präventionsmaßnahmen in die Wege zu leiten sind. Verbale und körperliche Gewalt und sexuelle Belästigung sind für Beschäftigte in vielen Tätigkeitsbereichen relevante Gefährdungen mit möglichen Folgen für die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen. Daher muss diese Gefährdung bei der Gefährdungsbeurteilung genauso betrachtet werden wie Gefährdungen durch schweres Heben oder Tragen.

3. In welcher Form ist die Berufsgenossenschaft zuständig in Fällen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Inwiefern können sich Arbeitgeber*innen oder Beschäftigte aktiv  an Sie wenden, wenn diese etwas tun wollen zum Thema?

Die BGW unterstützt die Verantwortlichen in den Betrieben dabei, Arbeit sicher und gesund  zu gestalten. Das tun wir auf vielfältige Weise: Unser Aufsichtsdienst, der bei Betriebskontakten vor Ort überwacht und berät, legt dabei einen besonderen Fokus auf die Gefährdungsbeurteilung. Wir wissen, dass Beschäftigte in Pflege- und Betreuungsberufen Gewalt- und Aggression einschließlich sexueller Belästigung häufig durch die betreute Klientel ausgesetzt sind. Deshalb sprechen unsere Aufsichtspersonen das Thema im Betrieb aktiv an. Darüber hinaus bietet die BGW auch Organisationsberatung durch speziell geschulte Berater*innen an. Wir qualifizieren Führungskräfte zur Entwicklung betrieblicher Strategien gegen Gewalt und Aggression oder führen Veranstaltungen zu diesem Thema durch. Mit unserer Seite www.bgw-online.de/gewalt informieren wir über das Ausmaß dieser Gefährdungen und vermitteln Beispiele für geeignete Präventionsmaßnahmen.

4. Wie ist es, wenn etwas passiert ist? Was ist ihre Rolle als BGW, welche Angebote machen sie – in Bezug auf die Betroffenen? Wie  sind Sie im Falle eines Vorfalls mit Arbeitgeber*innen im Gespräch?

Erste Ansprechpartner für die Betroffenen sind natürlich ihre Vorgesetzten. Deshalb legen wir als BGW so viel Wert auf die Information und Schulung der Führungskräfte. Aber auch weitere Ansprechpersonen, wie Betriebsärzt*innen, Sicherheitsfachkräfte oder die betriebliche Interessenvertretung, werden von uns informiert oder geschult, damit sie im Fall eines Gewaltereignisses richtig reagieren. Wir können nicht alle Gewaltereignisse, die uns als Arbeitsunfall gemeldet werden, persönlich nachverfolgen. Aber wir haben Kriterien entwickelt, wann unser Aufsichtsdienst Kontakt mit dem Betrieb aufnimmt, um das Unfallgeschehen genauer zu analysieren und um Arbeitgeber*innen Hinweise zur Vermeidung zukünftiger Vorfälle zu geben.

Wenn Betroffene nach Gewaltereignissen am Arbeitsplatz Hilfe benötigen, können sie sich auch direkt an die regional zuständige Bezirksverwaltung der BGW wenden. Besteht ein Bedarf der Betroffenen, werden beispielsweise eine Frühintervention und probatorische psychotherapeutische Sitzungen angeboten – unbürokratisch und schnell. Auch eine kostenlose telefonisch-psychologische Beratung ist möglich (bis zu fünf Telefontermine à 50 Minuten mit geschulten Psychotherapeut*innen). Wenn Betroffene aus bestimmten Gründen nicht möchten, dass Arbeitgeber*innen über das Ereignis informiert werden, sollten sie darauf ausdrücklich hinweisen. In der Regel ist es zur Ermittlung der Ursachen und zur Prävention weiterer Vorfälle sinnvoll, wenn der Betrieb Bescheid weiß und Lösungen erarbeitet.

5. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann ein Arbeitsunfall sein -   was bedeutet das?

Kommt es am Arbeitsplatz oder auf dem Hin- und Rückweg zu einem gewalttätigen Übergriff oder einer sexuellen Belästigung, handelt es sich dabei um einen Arbeitsunfall. Betroffene und Betriebe können auf die Unterstützung der BGW zählen. Auch eine verbale Bedrohung und Belästigung ohne direkte körperliche Folgen stellt einen Arbeitsunfall dar, wenn die psychischen Folgen das Ergebnis eines definierten Vorfalls in einer Arbeitsschicht sind. Kein Arbeitsunfall sind immer wiederkehrende Beleidigungen und Belästigungen, die in der Summe zu psychischen Fehlbelastungen bei den Betroffenen führen. Wichtig für den Versicherungsschutz ist, dass die Betriebe den Arbeitsunfall der BGW melden, wenn eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei  Tagen die Folge ist: www.bgw-online.de/DE/Medien-Service/Formulare/Formulare-Unfall-melden/Unfallanzeige

Eine durch  Arbeitgeber*innen mit den Betroffenen abgestimmte Meldung auch ohne Arbeitsunfähigkeit ist möglich – auch die Betroffenen selbst können sich an die BGW wenden, ohne dass sie krankgeschrieben sind.

6. Ist es also so, dass Beschäftigte oder Leitungskräfte sich bei allen Formen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – also  non-verbaler, verbaler oder körperlicher Gewalt am Arbeitsplatz – an die BGW wenden können?

Für die Betroffenen erbringen wir Leistungen, wenn das Gewaltereignis ein Arbeitsunfall im Sinne der Definition war. Das ist, wie gesagt, unabhängig davon, ob es sich um verbale, non-verbale oder körperliche Gewalt handelt. Im Rahmen unseres umfassenden Präventionsauftrags beraten wir aber Arbeitgeber*innen  und Führungskräfte auch zur Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren. Von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren sprechen wir, wenn beispielsweise bei den Beschäftigten Stress durch dauerhafte Beleidigungen oder anzügliche Bemerkungen entsteht. Unsere Beratungs- und Qualifizierungsangebote bieten auch Ansätze zum Erkennen und zum Umgang mit dieser Form der psychischen Belastung.

7. Wie geht es dann weiter, wenn ich einen Vorfall melde? Geht das auch (erstmal) ohne Nennung des Namens? Können Sie unseren Leser*innen die Ansprechstellen der BGW nennen?

Eine anonyme Meldung eines Arbeitsunfalls ist nicht möglich. Um Leistungen zu gewähren, brauchen wir die dazugehörige Person.

Wenn unsere Kolleg*innen im Rehabilitationsbereich Unfallmeldungen erhalten, in denen Hinweise auf Gewaltereignisse mit psychischen Folgen enthalten sind, informieren sie die Betroffenen aktiv über die psychologisch-therapeutischen Angebote der BGW. Betroffene können aber auch direkt in der Bezirksverwaltung anrufen und sich nach psychologischer Unterstützung erkundigen. Bei körperlichen Verletzungen übernimmt die BGW natürlich auch die Kosten für die Behandlung und eventuelle notwendige Rehabilitationsmaßnahmen.

8. Wie kommt es Ihrer Meinung nach, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz jetzt als Thema im Arbeitsschutz anerkannt wird? Sehen Sie Möglichkeiten den Schutz vor Belästigung in den gesetzlichen Arbeitsschutz zu integrieren (beispielsweise im Nachgang der Ratifizierung der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)  2019) – und was würde das bedeuten?

Für die BGW ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz  schon viele Jahre ein relevantes Thema im Arbeitsschutz. Ich denke, die bisherigen gesetzlichen Regelungen in Deutschland geben ausreichende Ansatzpunkte, als Arbeitsschützer*in gegen sexuelle Belästigung aktiv zu werden. Seit Ende 2013 fordert das Arbeitsschutzgesetz explizit die Berücksichtigung der psychischen Belastung in der Gefährdungsbeurteilung. Neue Unterstützung hat das Thema sicher durch die Präventionskampagne „Kommmitmensch“ (www.kommmitmensch.de) erhalten, an der sich alle Unfallkassen und Berufsgenossenschaften beteiligen. Indem die betriebliche Präventionskultur in den Fokus des Arbeitsschutzes rückt, erfahren Handlungsfelder wie Betriebsklima, Kommunikation und Fehlerkultur eine größere Beachtung.

Die Ratifizierung der ILO-Konvention hat meines Erachtens nach eher internationale Bedeutung und würde die Vorbildrolle Deutschlands beim Kampf gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sichtbar machen. Aber handlungsfähig in Sachen Arbeitsschutz sind wir in Deutschland auch schon auf Basis der bisherigen Regelungen.

9. Erleben Sie auch Widerstände, das Thema Belästigung im Arbeitsschutz stärker in den Fokus zu nehmen? Wie gehen Sie damit um?

Ich persönlich erfahre im Umfeld meiner Berufsgenossenschaft viel Unterstützung dabei, das Thema sexuelle Belästigung aber auch Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz stärker zu thematisieren. Ich finde, da hat sich gesellschaftlich auch durch #MeToo schon viel verändert. Als ich Ende der 80er Jahre meine Diplom-Arbeit zu diesem Thema geschrieben habe und in Seminaren und auf Veranstaltungen zum Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz referiert habe, habe ich sehr viel häufiger Widerstände bis hin zu offener Ablehnung erfahren. Das ist heute eher selten.

Bezogen auf unsere Zielgruppe im Gesundheits- und Sozialbereich gibt es natürlich schon die Diskussion, inwieweit Patient*innen oder Bewohner*innen aufgrund ihrer Grunderkrankung für ihre Handlungen verantwortlich sind. Das ist oft mit der vorherrschenden Meinung verbunden, wenn man in der Pflege oder Betreuung arbeitet, müsse man das „aushalten können“ – sonst sei man für den Job nicht geeignet. Dazu ist meine Haltung, dass das Erdulden sexueller Belästigungen und Gewalt weder Teil des Arbeitsvertrags ist noch Teil des Berufsbildes. Wenn Belästigungen einfach hingenommen werden, führt das zur Verrohung. Ein professioneller Umgang mit schwierigen Pflege- und Betreuungssituationen heißt, im Team Lösungen zu suchen, die den Beschäftigten ein belästigungsfreies Arbeiten ermöglichen.

10. Momentan arbeitet die BGW an einer Studie zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz im Gesundheitsdienst. Können Sie uns schon etwas über die Ergebnisse der Studie verraten und wie wollen Sie mit dem Ergebnis weiterarbeiten?

Ziel der Befragung ist die Ermittlung der Häufigkeit von sexuellen Gewaltereignissen und die Beschreibung der Zusammenhänge zwischen sexueller Belästigung und Befindensindikatoren (z.B. Depressivität, Wohlbefinden, Emotionale Erschöpfung sowie psychosomatische Beschwerden). Darüber hinaus wollen wir erfassen, welche Präventions- und Nachsorgemaßnahmen nach erlebter sexueller Belästigung die Betriebe dieser Branchen vorhalten.

Wir haben bereits 903 Fragebögen von den Beschäftigten zurückerhalten. Ergebnisse können wir noch nicht verraten, da die Daten erst ab Mai ausgewertet werden. Wenn die Ergebnisse vorliegen, werden wir diese auf Fachkongressen präsentieren und damit einem breiten Publikum von Entscheidungsträgern vorstellen. Natürlich werden wir, je nach Ergebnis, Hilfen für die Betriebe und somit für die Beschäftigten entwickeln. Ich rechne mit offiziellen Ergebnissen erst im Herbst.

11. Was wünschen Sie sich von der Netzwerkarbeit im Rahmen von „make it work!“? ´

Ich finde es gut, dass viele Akteur*innen mit unterschiedlichen Zugängen zu Betroffenen, betrieblichen Verantwortlichen, Medien und Politik das Thema „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ gemeinsam aufgreifen und im Rahmen von „make it work!“ publik machen. Damit können wir mehr Power entwickeln und eine größere Aufmerksamkeit erzielen. Dabei ist es gut, wenn wir Schwerpunkte setzen und uns in der Arbeit ergänzen. Wir sollten im Rahmen der zukünftigen Zusammenarbeit klären, wer was besonders gut kann und wo wir auf Angebote der jeweils anderen Projektbeteiligten verweisen können.

12. In der Gesamtschau: Was und wen brauchen wir, damit sich die Rahmenbedingungen und vor allem die  Umsetzung bzgl. des Schutzes vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verbessern?

Wir brauchen engagierte und einfühlsame Führungskräfte, denen die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ein wichtiges Anliegen ist. Wir brauchen mutige Menschen, die Kolleg*innen unterstützen, sich gegen sexuelle Belästigungen zu wehren. Wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass sexuelle Belästigung kränkt, krank macht und gleichberechtigte Teilhabe in der Arbeitswelt verhindert. Wir brauchen ein gut ausgebautes und leicht zugängliches Unterstützungssystem für Betroffene.

13. Sie haben einen Wunsch frei – was soll in 5 Jahren im Bereich Arbeitsschutz bzgl. des Themas Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz passiert sein?

Die letzte Umfrage der Antidiskriminierungsstelle 2019 des Bundes hat ergeben, dass 40 % der Beschäftigten nicht wissen, an wen sie sich im Betrieb wenden können, wenn sie Belästigung erlebt haben. Ich wünsche mir, dass in 5 Jahren 90 % der Beschäftigten wissen, an wen sie sich wenden können, wenn Sie Hilfe und Unterstützung suchen. In den Gesundheits- und Sozialberufen kommt es fast doppelt so häufig zu Belästigungsereignissen wie in anderen Branchen. Daher wünsche ich mir, dass in 5 Jahren mindestens die Hälfte dieser Einrichtungen sexuelle Belästigung in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt und angemessene Präventionskonzepte entwickelt hat.

14. Wollen Sie uns noch etwas mitteilen?

Ich freue mich auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem bff  im Rahmen von „make it work!“!

Dankeschön für Ihre Zeit und Ihre Expertise!

Das Interview führte Larissa Hassoun makeitwork@bv-bff.de vom bff Projekt „make it work! Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“.