Interview mit Anette Diehl, Frauennotruf Mainz, Koordinatorin der make it work!- Fokusregion Rheinland-Pfalz und Expertin zum Thema Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz

„Wenn wir die Spitze der Verantwortlichen nicht mit ins Boot holen, dann können wir uns nicht richtig vorwärtsbewegen. Auch in der Politik braucht es eine Haltung, finanzielle Mittel, politische Maßnahmen und Zuständigkeiten. Sexuelle Belästigung findet in allen Lebensbereichen statt und es kann sich erst etwas ändern, wenn das auch von politischen Verantwortlichen so wahrgenommen wird.“

Anette Diehl arbeitet schon seit über 30 Jahren beim Frauennotruf Mainz und berät als Trauma-Fachberaterin gewaltbetroffene Frauen und Mädchen und deren Bezugspersonen. Sie ist langjährige Expertin zum Thema sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeits- und Ausbildungsplatz und hat von Mai 2019 bis August 2021 die „make it work!“-Fokusregionenarbeit in Rheinland-Pfalz gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Landesarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe RLP geleitet. Zudem ist Anette Diehl als Verbandsrätin im Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) aktiv.

 

Liebe Anette, bitte stell dich und den Frauennotruf kurz vor.

Ich heiße Anette Diehl und arbeite seit mittlerweile 34 Jahren beim Frauennotruf Mainz. Wir sind eine Fachstelle zum Thema sexualisierte Gewalt. Wie alle Frauennotrufe arbeiten wir an der Schnittstelle zwischen individueller Beratung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und deren Angehörigen einerseits und der gesellschaftlichen Aufklärungsarbeit sowie der politischen Strategiearbeit andererseits.

Von Mai 2019 bis August 2021 habt ihr in Mainz die „make it work!“-Fokusregion geleitet, Schwerpunkt war das Thema Landespolitik. Warum habt ihr den Fokus auf diesen Bereich gelegt? Was war eure Motivation euch als Fokusregion zu bewerben?

Wir haben uns nicht als Frauennotruf Mainz beworben, sondern als Landesarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe (LAG), d.h. die Frauennotrufe RLPhaben sich alle dafür ausgesprochen, gemeinsam zu dem Thema zu arbeiten. Wir 4 Frauennotrufe Mainz, Koblenz, Trier und Worms haben zusammen die Fokusregionenarbeit koordiniert und engmaschig begleitet. Wir haben uns entschieden, den Schwerpunkt Landespolitik auszuwählen und somit das Land Rheinland-Pfalz zu beackern, weil wir eine Landesarbeitsgemeinschaft sind und sozusagen in jeden Winkel in Rheinland-Pfalz mit dem Thema „Schutz vor sexueller Belästigung, Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz“ rein wollten. Darin haben wir auch nochmal die Möglichkeit gesehen, die Fachberatungsstellen im Bundesland, die Fortbildungen und Schulungen zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geben, zu stärken und miteinander zu vernetzen.

Eigentlich arbeiten wir als LAG schon seit 2011 zu diesem Thema. Mit der Ernennung „Ihr seid jetzt Fokusregion des bff-Projekts make it work!“ haben wir nochmal die Chance gesehen, uns stärker für dieses Thema aufzustellen und die zahlreichen Anfragen für Schulungen und Beratungen besser bedienen zu können. Ein weiterer Grund warum wir den Schwerpunkt Landespolitik ausgewählt haben lag daran, dass ich 2019 von der damaligen rheinland-pfälzischen Frauenministerin als Botschafterin der Kampagne LAUT♀STARK ernannt wurde. Da dachten wir uns, das nutzen wir jetzt und richten auch auf der landespolitischen Ebene den Fokus auf den Schutz vor Sexismus in der Arbeitswelt.

Hinzukam, dass wir den Unternehmen und Organisationen zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz die Top-Down Strategie empfehlen, da wir sie als die wirksamste Strategie betrachten. Diesen Ansatz haben wir praktisch auch auf die rheinland- pfälzische Gesellschaft übertragen, d.h. die politischen Verantwortlichen müssen zunächst einmal angesprochen werden.

Ihr habt euch im Rahmen der Fokusregionenarbeit sehr stark als rheinland-pfälzische Landesarbeitsgemeinschaft der Frauennotrufe vernetzt. Warum war es für euch wichtig euch als Beratungsstellen für Betroffene gemeinsam zum Thema aufzustellen? Wie profitiert ihr von der internen Vernetzung?

Nach dem Motto „Eine allein kann ein Wir nicht zusammenhalten!“ fühlen wir Expert*innen uns gegenseitig gestärkt und profitieren natürlich voneinander bei der Entwicklung von Workshopprogrammen, politischen Strategien und der Öffentlichkeitsarbeit. Nicht ein Frauennotruf in RLP, sondern alle stellen sich zu diesem Thema auf. In den letzten 30 Jahren haben wir gelernt, dass es sinnvoll ist, sich zusammenzutun, wenn es um das Thema sexualisierte Grenzverletzungen, Übergriffe und Gewalt geht. Auch beim Thema sexistische Diskriminierung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz macht Vernetzung und Zusammenarbeit auf jeden Fall Sinn.

Euer Ziel war wichtige landespolitische Multiplikator*innen zu erreichen und zu sensibilisieren: Mit wem habt ihr zusammengearbeitet? Welche Bereiche der Landespolitik habt ihr angesprochen und wie habt ihr euch vernetzt?

Als erstes haben wir tatsächlich Politiker*innen angesprochen, weil ja unsere Idee war, dass die Politik sozusagen in der Top-Down Strategie die Verantwortung trägt und das Thema in sämtliche gesellschaftliche Ebenen gut platzieren kann. Das war aber ein sehr schwieriges Unterfangen. Weder konnten wir es erreichen, dass sogenannte Anträge zur Geschäftsordnung im Ausschuss für Frauenfragen und Gleichstellung gesetzt wurden, noch sind wir irgendwie ins Landtagsplenum reingekommen. Wir waren und sind immer noch mit einzelnen Politiker*innen im engen Austausch und durch unsere erfolgreiche Pressearbeit sind wir als Ansprechpartnerin im Land gut bekannt. Aber letztlich bräuchten wir Personen aus der Politik, die das Ruder in die Hand nehmen, weswegen wir dann auf andere Ebenen zugegangen sind. So haben wir Gleichstellungsbeauftragte für uns gewinnen können, jedoch nicht nur die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten, sondern auch diejenigen, die in den Organisationen, Betrieben und Gewerkschaften tätig sind.

Strategisch war das sehr gut, denn daraus konnte eine Strahlkraft entstehen. Wir haben versucht, auch in das Betriebsrät*innen-Forum reinzukommen und auch in den Städtetag. Allerdings muss ich tatsächlich sagen, dass die Pandemie uns teilweise auch einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Sämtliche Akteur*innen der Landespolitik war nun mit ganz anderen Sorgen beschäftigt und so ist das Thema „Schutz vor sexueller Belästigung, Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz“ etwas in den Hintergrund gerückt.

Ihr habt gemeinsam mit Partner*innen 2020 auch eine Broschüre für Gleichstellungsbeauftragte erstellt. Warum ist es wichtig grade auch diese Zielgruppe zu stärken, wenn es um das Thema Schutz vor sexueller Belästigung geht? Wie arbeitet ihr mit Gleichstellungsbeauftragten zusammen?

Wer strukturell und arbeitspolitisch ansetzen möchte und das ist unser erklärtes Ziel, sollte sich immer um besondere Schnittstellen in den Institutionen bemühen. Hierzu zählen zwingend die Gleichstellungsbeauftragten.  Sie kennen die Problematik Sexismus, und sexualisierte Gewalt in ihren Betrieben gut, sie kennen die Strukturen, Möglichkeiten und Stolpersteine vor Ort und sie haben eine große Veränderungsmotivation. Des Weiteren hat die Zielgruppe Gleichstellungsbeauftragte eine große und starke Strahlkraft. Sie sitzen in den Organisationen, Betrieben und in der Politik und sie sind praktisch auch dafür zuständig die Gleichstellung zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Allerdings brauchen sie dafür auch die Unterstützung der Geschäftsführung bzw. der politischen Entscheidungsträger*innen.

Warum ist es so wichtig, dass sich die (Landes)Politik zum Thema Schutz vor sexueller Belästigung aufstellt?

Wie ich bereits schon erwähnt habe, die Top-Down Strategie ist vor allem in den Organisationen und Betrieben die wirksamste Strategie. Und diesen Ansatz haben wir auf die landespolitische Ebene übertragen. Wenn wir die Spitze der Verantwortlichen nicht mit ins Boot holen, dann können wir uns nicht richtig vorwärtsbewegen. Auch in der Politik braucht es eine Haltung, finanzielle Mittel, politische Maßnahmen und Zuständigkeiten. Sexuelle Belästigung findet in allen Lebensbereichen statt und es kann sich erst etwas ändern, wenn das auch von politischen Verantwortlichen so wahrgenommen wird. Daraus ergeben sich dann erst Rechtsgrundlagen und Handlungsmöglichkeiten. Wir sehen das zum Beispiel auch ganz konkret im Bereich Gewalt an Frauen.

Erst als 2001 die Landespolitik parteiübergreifend eine Beschlussempfehlung gemacht hat, konnte das Interventionskonzept gegen Gewalt an Frauen durchgesetzt werden. Seitdem wird landespolitisch dazu auf allen Ebenen gearbeitet und sowas wünschen wir uns auch zum Thema sexistische Diskriminierung. Davon sind wir aber noch mindestens drei Meter entfernt.

Was müssen landespolitische Akteur*innen tun, damit sich die Situation von Betroffenen verbessert?

Seit Mai 2021 haben wir ja einen neuen Landtag in Rheinland-Pfalz. Es gibt auch neue frauenpolitische Sprecher*innen in den Parteien und einen neuen Ausschuss für Gleichstellung. Da haben wir schon mal zu Einzelnen Kontakt aufgenommen und das Thema auch schon mal gesetzt. Und jetzt hoffe ich, dass da eben in den verschiedenen Parteien, ein Bewusstsein für politische Verantwortung entsteht, denn das ist notwendig. Die Fachministerien, die Ressorts, die richten sich ja auch danach, was die Politik sozusagen als Thema ausruft und finanziert. Somit brauchen wir die Politik, damit in Rheinland-Pfalz für alle gleichermaßen etwas geschieht.

Was waren für euch Erfolge der landesweiten Vernetzungsarbeit? Was waren Herausforderungen?

Eine sehr große Herausforderung war natürlich für uns die Pandemie. In Zeiten, wo Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit oder Homeoffice gehen und sich um ihre Kinder kümmern müssen, bleibt das Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ausgespart. Eine andere Herausforderung war, dass wir es tatsächlich unterschätzt haben, wie schwerfällig es mit solchen Themen in der Politik ist. Aber selbstverständlich gab es auch Erfolge. Wir hatten in Rheinland-Pfalz 2019 ein tolles Presseecho. So wurde ich im Rahmen der Gleichstellungskonferenz als Studiogast im Fernsehen eingeladen. Solche Ereignisse sind wirklich großartig und stärken unsere Arbeit. Aktuell hatten wir z.B. ein Gespräch mit dem neuen Staatssekretär und Abteilungsleitung des Frauenministeriums und da wurde nochmal explizit unsere Arbeit zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gelobt. Das zeigt uns nochmal, dass wir gute Presse- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben. Die Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat uns in einem Schreiben zur Verstetigung dieser Arbeit bestärkt. Darüber hinaus haben wir mit großen Organisationen, mit über 5000 Mitarbeiter*innen, Konzepte für den Schutz vor sexueller Diskriminierung und Belästigung am Arbeitsplatz erarbeitet. So konnten wir mit unserer Top-Down Strategie Arbeitgeber*innen sowie Arbeitnehmer*innen zum Thema sensibilisieren und fortbilden.  

Was ich nicht unerwähnt lassen darf ist unsere Broschüre, die wir für die Gleichstellungsbeauftragten in Rheinland-Pfalz entwickelt haben. Sie ist nicht nur auf Landesebene gefragt, sondern auch bundesweit. Sogar die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat unsere Broschüre auch auf ihre Internetseite platziert. So kann ich sagen, dass wir mit unserer Arbeit eine große Aufmerksamkeit erzielt haben und das hält bis heute an.

Welche Ziele habt ihr als LAG, um gemeinsam weiter zu arbeiten? Wie geht es weiter?

Nach der Modellregion-Phase war uns klar, dass wir weitermachen müssen. So haben wir beschlossen unter einem neuen Slogan „it works! Wir unternehmen was. Gegen sexualisierte Belästigung in der Arbeitswelt“ unsere Arbeit fortzusetzen. Nach wie vor möchten wir weiterhin mit der Landespolitik im engen Austausch bleiben. Wir haben aber auch vor, die Gewerkschaften mit einzubeziehen. Unser großes Ziel ist eine Art Gütesiegel für Organisationen bzw. Institutionen aus Rheinland- Pfalz zu entwickeln, die von uns durchgeschult werden und mit uns gemeinsam effektive Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung an ihren Arbeitsplätzen etablieren.

Was ratet ihr anderen, die in diesem Bereich tätig werden wollen? Wie kann es mit der Vernetzung gehen?

Tatsächlich sind Vernetzung und Kooperation die Zauberwörter. Als AG “it works!- Rheinland-Pfalz” bestehend aus Regina Mayer aus Worms, Ruth Petri aus Trier, Conny Zech aus Koblenz und mir, Anette Diehl aus Mainz sind wir im regelmäßigen Austausch und schöpfen daraus unsere Kraft. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, sondern uns einfach mit den Kolleg*innen austauschen und am besten auch bundesweit im bff. Mit dem “make it work!”-Projekt ist der Bundesverband tatsächlich sehr gut zu diesem Thema aufgestellt. Davon können viele Mitgliedseinrichtungen profitieren.  

Steht ihr zur Verfügung, um Erfahrungen weiterzugeben?

Ja, wir geben gerne unsere Erfahrungen sowie Arbeitsmaterialien weiter. Wir haben eine tolle Broschüre erarbeitet, die wir einfach so verschicken können. Wir geben auch gerne Tipps, was die Pressearbeit betrifft. Wir stehen gerne mit allem zur Verfügung und teilen was wir uns in den letzten Jahren erarbeitet haben.

 

Dankeschön für deine Zeit und deine Expertise!

Das Interview führte Ceyda Keskin (makeitwork@bv-bff.de) vom bff Projekt „make it work! Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“.