Interview mit Saideh Saadat-Lendle, Leiterin des Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeitsbereichs der Lesbenberatung Berlin - LesMigraS, zum Thema sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt

„Es ist sehr wichtig, dass Politik und Verwaltung sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene bei der Entwicklung von Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung LSBT*IQ Perspektiven und Bedürfnisse berücksichtigen und Projekte und Vereine, die diesbezüglich Expertise haben, politisch und finanziell unterstützen.“

Saideh Saadat-Lendle ist Psychologin, Diversity-Trainerin und freiberufliche Dozentin zu den Schwerpunkten Mehrfachdiskriminierung, Rassismus, Geschlecht/Gender, sexuelle Lebensweise, Flucht und Queers sowie Sprache und Diskriminierung. Von Beginn an leitet Saideh Saadat-Lendle außerdem den Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeitsbereich der Lesbenberatung Berlin e.V. – LesMigraS. LesMigraS richtet sich mit seinem Beratungsangebot vor allem an lesbische und bisexuelle Frauen, Trans* und Inter*(LBTI) of Color, LBTI mit Migrationsgeschichte und Schwarze LBTI. Fokus der Arbeit bei LesMigraS ist es, unterschiedliche Formen von Diskriminierungen und Gewalt in ihren Verknüpfungen zu erkennen. Die Thematisierung und der Einsatz gegen Mehrfachdiskriminierungen und die Verschränkungen von Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Klassismus und anderen Diskriminierungsformen sind zentrale Bereiche der LesMigraS-Arbeit.

Hallo Saideh Saadat-Lendle, können Sie sich und die Arbeit bei LesMigraS kurz vorstellen?

Mein Name ist Saideh Saadat-Lendle. Ich arbeite seit 1997 in der Lesbenberatung Berlin e.V. LesMigraS ist der Antidiskriminierungs-, Antigewalt- und Empowerment Bereich der Lesbenberatung Berlin.  Ich habe LesMigraS 1999 gegründet und leite seitdem u.a. den Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeitsbereich von LesMigraS. Wir setzen uns in unserer Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen gegen alle Formen von Gewalt und Diskriminierungen ein. Dabei engagieren wir uns insbesondere gegen Mehrfachdiskriminierung, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Trans*diskriminierung und Klassismus und deren Zusammenwirken.

Wir unterstützen lesbische und bisexuelle Frauen, Trans* und Inter* ihren Alltag gewaltfrei, diskriminierungsarm und selbstbestimmt zu leben und setzen uns für eine Gesellschaft ein, in der alle Lebensweisen wahrgenommen und geschätzt werden. Dazu bieten wir Beratungen und Sensibilisierungs- und Empowermentveranstaltungen, Gruppen, Workshops und Fortbildungen an.

Können Sie die Begriffe LSBT*IQ und queer kurz erklären?

LSBTIQ ist eine Abkürzung für  Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans und Intergeschlechtliche und Queere Personen. Im Grunde geht es hierbei um drei Kategorien. Bei der ersten Kategorie (LSB – Lesben, Schwule, Bisexuelle) geht es um die sexuelle Lebensweise. Es geht darum, zu welchem Geschlecht ich mich hingezogen fühle und wie ich meine Sexualität auslebe. Oder mit wem ich eine Liebesbeziehung eingehen bzw. eine Familie gründen möchte.  Die sexuelle Lebensweise umfasst Lesben (Frauen*, die Frauen* lieben), Schwule (Männer*, die Männer* lieben) und Bisexuelle (Frauen* und Männer*, die sowohl Frauen* als auch Männer* lieben).

Bei der zweiten Kategorie (T*I – Trans* und Inter) geht es um die geschlechtliche Lebensweise und die geschlechtliche Identität. Bei Trans* geht es unabhängig von der medizinischen Kategorie, die uns bei der Geburt zugewiesen worden ist, darum: in welchem Geschlecht fühle ich mich wohl? Zu welchem Geschlecht fühle ich mich zugehörig? Welches Geschlecht passt zu meinem inneren Verständnis und mit welchem Geschlecht identifiziere ich mich selbst? So geht es bei trans* Personen, um Menschen, die sich nicht oder nicht vollständig bzw. einseitig mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt von dem Medizinapparat oder Staat zugewiesen worden ist, identifizieren. In ihrem Pass steht z.B., dass sie weiblich sind, aber sie fühlen sich als Mann. Oder sie sind dem männlichen Geschlecht zugewiesen worden, fühlen sich aber als Frau.

Es gibt allerdings auch viele trans* Personen, die binäre Geschlechterkategorisierungen von Mann/Frau in Frage stellen und sich sowohl als auch, bzw. weder noch definieren. Aus diesem Grund verwenden sie das Sternchen „*“ bei Trans*. Es weist auf die Vielfältigkeit ihrer Identitäten und Eigendefinitionen hin.

Als inter* Personen sind die Menschen körperlich nicht ausschließlich mit Merkmalen eines binären Geschlechtes ausgestattet. Sie haben z.B. die äußerliche Erscheinung einer Frau, aber "männliche" Hormone oder Chromosomen. Oder sie haben die körperlichen Merkmale beider Geschlechter zugleich.

Es gibt aber auch Menschen, die sich als nicht–binär identifizieren. Nicht-Binäre Menschen definieren und verstehen sich nicht ausschließlich als Mann oder Frau. Sie können oder möchten sich nicht auf ein Geschlecht festlegen oder finden sich nicht nur in einem Geschlecht wieder und können sich nicht nur mit einem identifizieren.

Bei der dritten Kategorie (Q - Queer) geht es um eine politische Definition. Der Begriff Queer kommt aus Nordamerika. Es handelt sich um eine Selbstdefinition von Menschen, die sich in den 1960er Jahren zusammengetan haben, um gegen verschiedene Formen von Diskriminierung, darunter Homophobie, Trans*Diskriminierung, Rassismus und Klassismus, auf die Straße zu gehen und zu protestieren, um damit Widerstand zu leisten.

Was verstehen Sie unter dem Begriff „Mehrfachdiskriminierung“?

Menschen haben in der Regel mehrdimensionale Lebensweisen, Lebensrealitäten und Positionen in der Gesellschaft, die in einer komplexen Art und Weise miteinander verwoben und verzahnt sind, wie z.B. ihre Klassenzugehörigkeit, Bildungshintergrund, Geschlecht, körperliche Gegebenheiten, sexuelle Lebensweise etc.

Die Mehrheit der Menschen erlebt hierbei eine Form der Mehrfach- oder mehrdimensionalen Diskriminierung. Das geschieht indem, viele Teile unserer Lebensrealitäten gleichzeitig in einer komplexen Art und Weise strukturell, institutionell und individuell diskriminiert werden. Die Diskriminierung dieser Lebensrealitäten geschieht also nicht einzeln und getrennt voneinander bzw. nebeneinander. Sie werden auch nicht vereinzelt zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen diskriminiert. Verschiedene Identitäten und Lebensrealitäten von uns werden vielmehr immer gleichzeitig in einer komplex verwobenen Form diskriminiert. Hierbei beeinflussen Diskriminierungsdimensionen sich gegenseitig. Sie färben sich ab, durchdringen sich und sind immer voneinander abhängig.  Lesbische Frauen werden bspw. nie Diskriminierung alleine aufgrund ihrer sexuellen Lebensrealität erfahren. Die Kategorie lesbische Frau und ihre Diskriminierungserfahrung hat immer auch eine Herkunft, eine Hautfarbe, ein Alter, einen Körper mit einer bestimmten Befähigung oder Beeinträchtigung, eine (oder mehrere) geschlechtliche Identität(en), die jeweils in unserer Gesellschaft privilegiert oder diskriminiert werden. Das hat eine komplett andere Qualität. Es ist somit eine mehrdimensionale Diskriminierungserfahrung.  In meiner Diskriminierungserfahrung als Lesbe z.B. spielt Rassismus, Klassismus und mein Nicht-Binäres Geschlecht immer eine Rolle.

Können Sie uns berichten, von welchen (Diskriminierungs-) Erfahrungen Ihnen Betroffene in Ihrer Beratungsstelle im Arbeitskontext berichten? Wenden sich Betroffene spezifisch bzgl. sexueller Belästigung am Arbeitsplatz an LesMigraS?

Wir haben sehr viele Klient*innen und Besucher*innen, die im Arbeitskontext Diskriminierung, Beleidigung, Mobbing und im allgemeinen Gewalt erlebt haben bzw. erleben. Es gibt allerdings selten Beratungsanfragen von LSBT*IQ Menschen, die sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz erlebt haben. Ich gehe davon aus, dass auch im Kontext Arbeit viele sexuelle Übergriffe vorkommen. Die Betroffenen dieser Übergriffe nehmen allerdings selten Unterstützung unserer Beratungsstelle in Anspruch.

Die meisten uns bekannten sexualisierten Übergriffe von LSBT*IQ Personen sind im öffentlichen Raum, im Kontext Bildung, in Partyräumen und in queeren Zusammenhängen geschehen. Im Kontext Bildung sind alle uns bekannten sexuellen Übergriffe an LSBT*IQ Personen von cis-männlichen Professoren und Dozenten ausgegangen, während die Betroffenen alle Studierende bzw. studentische Hilfskräfte waren. Die größte Gruppe der Betroffenen, die sich an uns gewandt haben, waren trans* Personen.

Im Umgang mit sexuellen Übergriffen in Partyräumen bekamen wir vor dem Corona-Ausbruch sehr viele Beratungs- und Vermittlungsanfragen. Als wir im Jahre 2018 gemerkt haben, dass wir diesen Anfragen nicht hinterherkommen können, und dabei gleichzeitig gesehen haben, dass die sexuellen Übergriffe in verschiedenen Partyräumen ähnliche Strukturen und Dynamiken vorweisen, haben wir mögliche Handlungsstrategien verschriftlicht und in der Broschüre namens „Grenzen setzen“ veröffentlicht.

Warum ist es Ihrer Meinung nach so, dass queere Menschen sehr häufig von sexueller Belästigung betroffen sind und es in der Regel so schwer ist, darüber zu sprechen?

Wie ich beschrieben habe, nehmen viele LSBT*IQ Menschen, die sexualisierten Übergriffe im öffentlichen Raum, im Bereich Bildung und Gedundheit, in Partyräumen und in queeren Zusammenhängen erlebt haben, unsere Beratungen in Anspruch. Sie sind allerdings bis jetzt mit der Thematisierung ihrer Erfahrungen nicht in die Öffentlichkeit gegangen. Sie entscheiden sich unserer Erfahrungen nach, für andere Strategien.

Beispielsweise:

In Bezug auf Partyräume werden sie teilweise richtig aktiv und setzen einen Prozess in Gang, der zum Teil die strukturellen Änderungen dieser Räume bewirkt und ermöglicht. Z.B. schaffen sie es, dass Wellness-Gruppen organisiert werden, oder dass Mediationen und Vermittlungsgespräche durchgeführt werden, usw.  In Bezug auf sexualisierte Übergriffe in queeren Szenen verlangen sie Interventionen von Antigewaltstrukturen wie z.B. von LesMigraS oder sie organisieren innerhalb der queeren Communities Interventionsgruppen.

Im Bereich Bildung schreiben sie Beschwerdeberiefe an die betroffenen Professoren und Dozenten und kontaktieren die Gleichstellungsbeauftragten ihrer Bildungsinstitution.  

Im Bereich Arbeit nehmen sie allerdings, wie es scheint, die Unterstützungsangebot der Beratungsstellen seltener in Anspruch. Vielleicht, weil LSBT*IQ-Lebensweisen im Kontext Arbeit selbst tabuisiert sind bzw. weil sie sehr abhängig von ihren Arbeitsgeber*innen sind. Ich habe eine lesbische Klientin, die im Kontext Ausbildung von ihrem Werkstattleiter sexuelle Belästigung erlebt hat. Sie hat Widerstand geleistet und ist dann aufgrund eines kleinen Vorwands gekündigt worden. Erst Jahre später konnte sie darüber sprechen.

Allgemein gehen LSBT*IQ, die sexualisierte Gewalterfahrungen machen, sehr selten mit ihren Anliegen in die Öffentlichkeit. Vielleicht fällt ihnen das deshalb nicht leicht, weil es automatisch ein Zwangsouting bedeutet. Oder, weil LSBT*IQ-Lebensweisen zum Teil tabuisiert und stigmatisiert sind. Möglicherweise wollen LSBT*IQ Menschen, die in queeren Zusammenhängen sexualisierte Gewalt erleben, die eigenen Räume und Zusammenhänge nicht bloßstellen. Diese Räume und Zusammenhänge sind bereits genug stigmatisiert und dem wollen sie nicht noch etwas hinzufügen.

Oder sie sprechen in der Öffentlichkeit selten darüber, weil sie Angst davor haben, dass eine Opfer-Täter*innen-Umkehr stattfindet. In den Fortbildungen, die ich zum Thema Gewalterfahrungen von LSBT*IQ in verschiedenen Unterkünften gebe, wie z.B. in den Unterbringungen für Obdachlose oder Geflüchtete, höre ich häufig von den Mitarbeitenden, dass Schwule oder trans* Personen Gewalt erleben, weil sie sich auffällig verhalten. Sie werden hier also für die erlebte sexualisierte Gewalt selbst verantwortlich gemacht. Diese Argumentation kennen wir ja in der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt an Frauen.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich kaum eine LSBT*IQ-Organisation gegen sexualisierte Gewalterfahrungen und Belästigung von LSBT*IQ Personen stark gemacht hat. Wahrscheinlich müssen wir Beratungsstellen einen stärkeren Fokus darauf legen und offensiver damit in die Öffentlichkeit gehen, um diese Erfahrungen sichtbarer zu machen.

In Ihrer Studie[1] zu Gewalt und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen und bisexuellen Frauen und Trans* von 2009 habt ihr auch den Arbeitsbereich in den Fokus genommen: Was habt ihr bezüglich der Erfahrungen von Gewalt, Diskriminierung und Belästigung am Arbeitsplatz von mehrfachdiskriminierten LBT* Personen erfahren?

In unserer Studie ging es eher um die diskriminierende Beurteilung der Leistungen von LBT*IQ Personen und allgemein um diskriminierende Äußerungen und Verhaltensweisen im Kontext von Arbeit und Bildung. Z.B. ob die Partner*innen der LBT*IQ Mitarbeitenden genauso zu den Betriebsveranstaltungen eingeladen waren, wie die der Heteromitarbeitenden.

Bei der Vorbereitung der Studie haben wir uns überlegt, die sexualisierten Gewalterfahrungen von LBTIQ Personen eventuell auch zu erfassen. Bei der Entwicklung der Forschungsmethoden wurde uns aber ziemlich schnell klar, dass dies ein großes Thema ist, welches unserer Studie nicht gerecht werden kann. Die Auseinandersetzung mit sexueller Belästigung von LSBT*IQ benötigt eine eigene Studie.

Sind Ihnen wichtige Studien zur Betroffenheit von LSBT*IQ Personen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bekannt?

Leider nicht. In manchen Broschüren wird von sexualisierten Gewalterfahrungen von LSBT*IQ Personen gesprochen. Leider gibt es in diesen Broschüren kaum Konkretes dazu zu finden.

Wie bewertet Sie den Schutz durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bzgl. sexueller Belästigung, Diskriminierung und Gewalt von queeren Personen am Arbeitsplatz?

Beim AGG müssen wir allgemein auf zwei verschiedenen Ebenen denken und unterscheiden. Der Gesetzestext ist die Theorie, also, was das AGG verbietet oder bevorzugt und empfiehlt. Die andere Ebene ist die Praxis, also, wie das Gesetz umgesetzt wird.

Als Gesetz ist das AGG ein positiver Schritt gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, da sie als eine Diskriminierungsform von ihm anerkannt ist. Dadurch sind die Arbeitgeber*innen verpflichtet ihre Mitarbeitenden vor sexueller Belästigung, sei es durch Kolleg*innen, Vorgesetzte oder Kund*innen zu schützen. Das ist im AGG festgehalten. Wenn Arbeitgeber*innen von solchen Belästigungen Kenntnis haben, müssen sie was dagegen unternehmen. Z.B. die Personen, von denen Belästigung und Gewalt ausgeht, abmahnen oder sogar kündigen. Die Betroffenen haben ein Recht auf Entschädigung, wenn Arbeitgeber*innen ihre Pflicht nach dem AGG nicht erfüllen.

Das Problem liegt an der Praxis. So gibt es bspw. sehr wenig Wissen darüber, dass sexuelle Belästigung nach dem AGG eine Form von Diskriminierung ist. Das andere Problem liegt darin, dass viele Arbeitgebende sexuelle Belästigung nicht ernst nehmen, sich diesbezüglich nicht fortbilden und keine entsprechende Professionalisierung haben. Im Allgemeinen fehlt es den Arbeitskontexten an einer Kultur, die sexuelle Belästigung anerkennt und ansprechbar macht. So bleibt den Betroffenen unklar: an wen kann ich mich wenden? Wie reagieren Führungskräfte darauf? Ist das, was ich erlebt habe, sexuelle Belästigung? Wissen alle was sexuelle Belästigung ist? Können sie nachvollziehen, dass so ein blöder Spruch, jener Witz oder die Einladung zum Abendessen, schon eine sexuelle Belästigung sein kann und auf jeden Fall so eine Wirkung auf mich haben könnte.

Durch alle diese Unklarheiten und durch fehlendes Vertrauen, dass mir geglaubt und ich aufgefangen werde, werden sexuelle Belästigungen in der Praxis wenig angesprochen und bleiben tabuisiert. Bei LSBTIQ Personen sind die Unsicherheiten und Belastungen noch massiver, da viele auf der Arbeit kein Coming-out haben möchten.

Auf Ihrer Website habt Sie Empfehlungen (auch für Arbeitgeber*innen) zusammengetragen, wenn es um Gewaltschutz von LBT* Mitarbeitenden geht: Was braucht es, damit die Situation sichtbarer wird? Wer muss was tun?

Wir Antidiskriminierungs- und Antigewaltprojekte müssen als ersten Schritt sexuelle Belästigung von LSBT*IQ Personen zu unserem Schwerpunkt machen. So erreichen wir, dass die Erfahrungen sichtbarer werden und wir den Betroffenen konkrete Handlungsstrategien und Empowermentangebote anbieten können. Gleichzeitig können wir durch Vernetzungsarbeit mit den anderen Stellen, gerade denen, die im Kontext von Arbeit und Antidiskriminierung tätig sind, gemeinsame Handlungsstrategien entwickeln und damit in die Öffentlichkeit gehen. Wir können viel bewegen. Wir müssen uns nur auf den Weg machen, um dafür Ressourcen zu erhalten und welche frei zu stellen.

Gibt es gute Beispiele aus Ihrer Praxis bzgl. Prävention, Unterstützung, Vorgehen zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz?

Unsere passenden Unterstützungsstrategien sind: ressourcen- und akzeptanzorientierte Arbeit, Parteilichkeit gegenüber unseren Ratsuchenden, d.h., ihre Erfahrungen ernst zunehmen bzw. nicht zu relativieren und aufbauende längerfristige Beratungs- und Begleitungsangebote anzubieten. Unsere Empfehlungen bzgl. Prävention, Unterstützung und Vorgehen zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind:

  • Unabhängige Beschwerdestellen / Ansprechpersonen, die von Arbeitgeber*innen benannt werden,
  • Klare betriebsinterne Gewalt- und Diskriminierungsschutzkonzepte,
  • Schulung aller Führungskräfte und Mitarbeitenden zum AGG
  • Entwicklung einer Kultur, die sexuelle Belästigung anerkannt und ansprechbar macht,
  • Genau dokumentierte Abläufe, was im Fall von Gewalt und Diskriminierung zu tun ist und wer ansprechbar ist.
  • Nicht binär geschlechtliche Materialien zu entwickeln
  • Stärkung einer Antidiskriminierungskultur im Betrieb
  • Stärkung des Bewusstseins darüber, dass auch LSBT*IQ Personen, darunter vor allem trans* Personen, aber auch Queers, die behindert werden und geflüchtete Queers, Gefahren ausgesetzt sind, häufiger von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen zu werden.

Welche Beratungs- und Unterstützungsstellen können Sie LSBT*IQ Menschen empfehlen, die Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz erfahren?

In fast allen Großstädten in Deutschland gibt es Vereine, die Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeit leisten. Sie unterstützen und begleiten Menschen, bei den gerichtlichen und außergerichtlichen Interventionen, die vom AGG unter Schutz stehen, darunter auch Menschen, die von sexueller Belästigung betroffen sind. In Berlin gibt es u.a. uns, also LesMigraS - den Antidiskriminierungsarbeitsbereich der Lesbenberatung Berlin, StandUp - das Antidiskriminierungsprojekt der Schwulenberatung Berlin oder ADNB - das Antidiskriminierungsnetzwerk des TBB. Bundesweit existiert der Antidiskriminierungsverband Deutschland -  advd, in dem viele dieser Vereine Mitglieder und aktiv sind - uns eingeschlossen.

In Berlin können Betroffene sich sehr gerne an uns oder an die anderen erwähnten Vereine wenden. Kontakt zu unserer Beratungsstelle finden Sie online auf unserer Website: https://lesmigras.de/beratung.html

Wenn wir nun das anschauen, was es schon gibt zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – also bspw. Studien, Kampagnen, Konferenzen, Fortbildungen für Führungskräfte, Sensibilisierungs- und Informations-Veranstaltungen für Arbeitnehmer*innen, Erstberatungs- und Beschwerdestellen in Betrieben, Materialien zum Thema  -was fehlt, wenn wir die Perspektiven  queerer Menschen besser einbeziehen und repräsentieren wollen? Was wünschen Sie sich von „make it work!“ zum Thema?

Es fehlt leider an Allem. Es ist sehr wichtig, dass Politik und Verwaltung sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene bei der Entwicklung von Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung die LSBT*IQ Perspektiven und Bedürfnisse berücksichtigen und Projekte und Vereine, die diesbezüglich Expertise haben, politisch und finanziell unterstützen.

„make it work!“ kann diesen Bedarf an Politik und Verwaltung weiterleiten und unsere Perspektive auch selbst bei der Planung und Konzeptentwicklung seiner Projekte berücksichtigen. Um das zu realisieren, ist es von Bedeutung, dass „make it work!“ sich mit den LSBT*IQ Antigewalt und Antidiskriminierungsstellen und -projekten vernetzt bzw. mit ihnen ins Gespräch und in Kooperationsarbeit geht.

Dankeschön für Ihre Zeit und Ihre Expertise!

Das Interview führte Larissa Hassoun (makeitwork@bv-bff.de) vom bff-Projekt „make it work! Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“.

[1] „...nicht so greifbar und doch real“: Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. LesMigraS, 2009. Link zur Studie: https://lesmigras.de/tl_files/lesmigras/kampagne/Dokumentation%20Studie%20web.pdf